Selbsthilfegruppe für Hörgeschädigte:Schrei doch nicht so!

Selbsthilfegruppe für Hörgeschädigte: Utting: Hörgeschädigte Irene Meude-Bauer.

Utting: Hörgeschädigte Irene Meude-Bauer.

(Foto: Nila Thiel)

Rund 16 Millionen Menschen in Deutschland gelten als schwerhörig, zudem gibt es etwa 80 000 Gehörlose. Das Miteinander zwischen Hörenden und Hörgeschädigten ist nicht immer leicht. Eine Uttinger Selbsthilfegruppe will dabei helfen, einander besser zu verstehen.

Von Linus Freymark, Utting

Warum zum Geier ist der Schneepflug so laut? Es ist Neujahr, Christine Warcup ist gerade aufgewacht, und der Krach der Maschine dröhnt in ihrem Ohr. Aber Moment mal: Wieso denn der Schneepflug? Es liegt doch gar kein Schnee. Da wird Warcup klar: Der Lärm kommt nicht von außen. Er ist in ihrem Kopf.

Eine Art Hörsturz sei das wohl gewesen, meint die 69-Jährige Uttingerin, wenn sie heute von dem Einschnitt in ihrem Leben erzählt. Der Schneepflug ist inzwischen wieder raus aus dem Kopf. Aber die Schwerhörigkeit ist geblieben. Ab einem gewissen Dezibelwert geht nichts mehr, auch hohe Frequenzen sind besonders schwierig. Und dann ist da noch das Problem mit der Tagesform. "Es schwankt total", sagt Warcup. "Ich weiß nie, wie ein Tag oder eine Situation wird." Läuft es gut, versteht sie fast alles. Läuft es nicht so gut, muss sie öfter mal nachfragen: Was hast du gesagt? Ich habe dich nicht verstanden, kannst du das nochmal wiederholen? Warcup fällt es nicht immer leicht, darum zu bitten. "Man zieht sich immer mehr zurück", erzählt sie.

Fast jeder fünfte Deutsche hat Probleme beim Hören

Nach Zahlen des Deutschen Schwerhörigenbundes gibt es bundesweit rund 16 Millionen Menschen mit Probleme beim Hören, das ist fast jeder Fünfte. Dabei gibt es verschiedene Abstufungen der Einschränkung. Aber auch wer nicht so stark betroffen ist, kämpft im Alltag mit Problemen: Durchsagen, die man nicht mitbekommt, Sozialkontakte, die zerbrechen, weil die Kommunikation so schwierig ist. 1,5 Millionen Menschen gelten als hochgradig schwerhörig oder sind komplett taub. Und es gibt etwa 80 000 Menschen, die von Geburt an nicht hören.

Selbsthilfegruppe für Hörgeschädigte: "Man zieht sich immer mehr zurück", erzählt Christine Warcup.

"Man zieht sich immer mehr zurück", erzählt Christine Warcup.

(Foto: privat)

Bei Christine Warcup ging es vor ein, vielleicht zwei Jahren los. Ein Leben lang hörte sie gut, dann auf einmal nicht mehr: eine Zäsur, mit der man erstmal klarkommen muss. Um dabei Unterstützung zu bekommen, ist Warcup Anfang November zu einem Treffen gegangen, das es so in der Region zum ersten Mal gab: die Selbsthilfegruppe von Irene Mende-Bauer.

Mende-Bauer ist 72 Jahre alt und zählt zu jener Sorte Mensch, die Besuchern neben Kaffee auch noch eine Butterbreze anbietet. Als sie fünf war, stellten die Ärzte fest, dass sie hörgeschädigt ist. Keine leichten Voraussetzungen für eine glückliche Kindheit, wenn man nicht viel mitbekommt. "Du fühlst dich als Kind behindert", sagt sie, "bist du ja auch."

Cochlea-Implantate sind für die Betroffenen Wunderwerke der Technik

Mit den Jahren wurde das Hören immer schwieriger, inzwischen ist Mende-Bauer ertaubt. Aber je schlechter ihre Ohren wurden, desto besser wurde zum Glück die Technik: Das, was bei anderen das Innenohr leistet, erledigen bei Mende-Bauer heute Cochlea-Implantate. "Wunderwerke der Technik", nennt ihr Mann Peter die Geräte, mit denen seine Frau wieder etwas hören kann. Heilen lässt sich der Hörschaden nicht, auch nicht durch Implantate.

Umso wichtiger, dass man sich mit seiner Einschränkung arrangiert, findet Irene Mende-Bauer. Sie hat lange als Pädagogin für Hörgeschädigte gearbeitet, eine Passion als Job: Sie liebte die Kinder und die Kinder liebten sie, sie war ja eine von ihnen. Später hat sie Bücher geschrieben über die Themen, die sie bewegen: Welche Rolle spielt die Körpersprache für Hörgeschädigte bei der Kommunikation? Wie erklärt ein Kind anderen seine Behinderung? Und: Welcher Standort ist zum Lippenabsehen vorteilhaft?

"Die Corona-Zeit war eine Katastrophe", sagt Mende-Bauer. Sie liest von den Lippen ab

Mende-Bauer kann das gut. Wenn sie mit ihrem Mann im Auto sitzt, erzählt sie ihm, worüber die Menschen an der Ampel gerade sprechen. Diese Fähigkeit hilft ihr beim Verstehen. Umso schlimmer war die Corona-Zeit für sie: Lippen hinter Masken lassen sich schlecht lesen. "Das war eine Katastrophe", sagt Mende-Bauer.

Aber: Ihre Kompetenzen helfen ihr nun auch bei der Arbeit in der Selbsthilfegruppe. Einmal im Monat treffen sie sich in Utting, machen Rollenspiele und Hörübungen. Das hilft dabei, Geräusche aus dem Alltag einzuordnen, das Klick-Klack eines Kugelschreibers etwa. Denn wenn man einmal ertaubt ist und durch Hilfsmittel wie die Cochlea-Implantate wieder hören kann, muss man das neu lernen.

Selbsthilfegruppe für Hörgeschädigte: Irene Meude-Bauer ist auf Implantate angewiesen. Der andere Teil der Geräte ist fest in ihrem Ohr verankert.

Irene Meude-Bauer ist auf Implantate angewiesen. Der andere Teil der Geräte ist fest in ihrem Ohr verankert.

(Foto: Nila Thiel)

Vor allem aber geht es ums Reden. Jede und jeder soll erzählen können, was sie oder ihn belastet. "Das fällt leichter, weil die anderen das oft nachvollziehen können", sagt Mende-Bauer. Sie sind ja alle in mehr oder weniger der gleichen Situation. Sechs Teilnehmer sind zur ersten Sitzung Anfang November gekommen: fünf Hörgeschädigte, ein Angehöriger.

Selbsthilfegruppe für Hörgeschädigte: Viele Hörgeschädigte haben Hemmungen, sich zu outen. Irene Mende-Bauer will helfen, diese zu überwinden.

Viele Hörgeschädigte haben Hemmungen, sich zu outen. Irene Mende-Bauer will helfen, diese zu überwinden.

(Foto: Nila Thiel)

Der Angehörige ist Charles Warcup, der Mann von Christine. Nervt das nicht, wenn einen die eigene Frau nicht mehr so gut versteht? "Natürlich", sagt Charles Warcup. Es nervt ihn, wenn Christine von der Treppe herunterruft und er schon weiß, dass sie die Antwort sowieso nicht verstehen wird. "Ich vergesse das selber", sagt Christine. Wenn Charles etwas nochmal sagen muss, wird er automatisch lauter.

Die Angehörigen benötigen viel Empathie, und Hörgeschädigte sollten sich mehr outen

Laut klingt meistens auch genervt. Das regt dann wiederum Christine auf. "Schrei doch nicht so!", sagt sie dann. "Du verstehst mich sonst doch nicht", ist dann die Antwort. "Ich muss noch lernen, laut zu sprechen, ohne dass es genervt klingt", sagt Charles. "Es wäre viel einfacher, wenn ich hören könnte", sagt Christine.

Selbsthilfegruppe für Hörgeschädigte: "Ich muss noch lernen, laut zu sprechen, ohne dass es genervt klingt", sagt Charles Warcup.

"Ich muss noch lernen, laut zu sprechen, ohne dass es genervt klingt", sagt Charles Warcup.

(Foto: privat)

Die Angehörigen müssten viel Empathie zeigen, meint Irene Mende-Bauer. "Das ist nicht immer leicht." Aber auch für die Betroffenen selbst ist der Alltag anstrengend: Das Gehirn muss ständig Sätze zusammenreimen, weil nicht alle Informationen angekommen sind. Und klar - manchmal hilft auch das nicht, um zu verstehen. Wie Christine Warcup fällt es vielen schwer, dann darum zu bitten, das Gesagte zu wiederholen.

"Hörgeschädigte sollten sich mehr outen und mehr Hilfe einfordern", meint Mende-Bauer. "Wir müssen selbst auf die Hörenden zugehen." Sicher, das sei schwierig. Schließlich habe man nicht dauernd Lust, sich mit seinem Namen und dem Zusatz "Ich bin schwerhörig" vorzustellen. Aber es sei wichtig, dass Gesprächspartner Bescheid wissen, sagt Mende-Bauer. Denn nur dann kann es klappen, das Miteinander zwischen Hörenden und Menschen, die schlecht oder gar nicht hören.

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