Süddeutsche Zeitung

Freizeit im Landkreis Starnberg:Die Welt steht Kopf

Lesezeit: 7 min

Der 34-jährige Florian Böck liebt die Natur und die Freiheit. Auf seiner Wanderschaft bietet er regelmäßig Hangab-Sessions an. Sie sollen gleich mehrere positive Effekte haben.

Von Valerie Künzl, Utting

"Für mich ist das wie wieder Kind sein", sagt Flo Böck und lacht. Er hängt kopfüber an einem Baum und lässt seinen Körper und zeitgleich seine Seele baumeln. Das Ganze nennt sich Hangab.

Beim Hangab nimmt man sehr langsam und etappenweise die Umkehrhaltung ein, die Upside-down-Position. Das heißt, der eigene Körper wird kopfüber hochgezogen, die Wirbelsäule entlastet. Flo Böck hängt sich zwei- bis dreimal im Monat an einem Baum aus, "je nach Bedarf, man muss sich diese Zeit nehmen und auch danach, um nachspüren zu können", sagt der 34-Jährige. Das letzte Mal, als er sich ausgebaumelt hat, hing er an die zwei Stunden kopfüber an einem Baum. Hangab hätten schon die amerikanischen Ureinwohner praktiziert, sagt Böck: In vielen Kulturen sei bekannt, dass die Umkehrhaltung eine Vitalisierung, Bewusstseinsöffnung und Zentrierung bewirke.

So könne Platz im unteren Rücken und für die Bandscheiben geschaffen werden, alte Schlacken und angestaute Emotionen könnten losgelassen werden, und der Körper falle in einen Zustand der Tiefenentspannung. Das Energiesystem werde dabei in den natürlichen Urzustand zurückgesetzt, wodurch der Körper seine vollen Selbstheilungskräfte aktiviere, sagt Böck. Das Alte solle verschwinden, das Neue werde eingeladen, beschreibt er eine Hangab- Session. Diese sei nicht nur für Rückenleidende gedacht, sondern für "ganz unterschiedliche Menschen, die Themen loswerden wollen", sagt er. "Hangab ist für mich ein Tool, selbst in die Höhe und in die Tiefe zu kommen. Der Verstand gibt Ruhe, die Gedanken hören auf zu kreisen".

Flo Böck hat sich für die heutige Session eine große Weide direkt am Seeufer in Utting ausgesucht. Es herrscht klare Sicht über den Ammersee bis hin zu den Bergen, die hoch oben schon mit Schnee bedeckt sind. "Am liebsten ist es mir, wenn ich die Hangab-Sessions draußen machen kann. Für mich ist es das größte Geschenk". Das sei ein ganz anderes Gefühl als in einem abgeschlossenen Raum.

Böck schaut sich die Weide ganz genau an. "Ich verbinde mich mit dem Baum, baue Kontakt auf - wie ein inneres Einchecken: Ist es okay für dich, dass ich dich heute benutze?" Dies habe ihm Hartmut Bez mit auf den Weg gegeben. Er ist der Gründer von Hangab und betreibt ein eigenes Lehrzentrum im Deggenhausertal in Bodensee-Nähe, Böck hat bei ihm gelernt. "Ich wusste nicht, was mich erwartet. Man braucht diese Ausbildung, da es eine sehr sensible Arbeit ist". Nach seiner ersten Session habe er gewusst, dass Hangab auch viel mit Medizin zu tun habe. Auf dem Gebiet kenne er sich ein bisschen aus: Er habe eine Ausbildung zum aryuvedischen Yogamassagetherapeuten absolviert. "Ich habe von Körperstrukturen, Muskelgruppen und Anatomie einen Hintergrund."

Böck kraxelt auf den Baumstamm und macht ein breites orangenes Seil daran fest. "Ich schaue, dass ich die jungen Äste so wenig wie möglich tangiere. Und ich habe ein extra breites Seil, damit ich die Rinde nicht beschädige." Er springt wieder herunter und befestigt an dem breiten Gurt ein gelbes vollstatisches Seil, um sich daran dann mit einem Flaschenzug aushängen zu können. "Es hat eine sehr geringe Dehnung, von maximal ein bis zwei Prozent. Wenn ich mich daran aushänge geht es nicht in die Länge, es ist bombenfest". Und das sei wichtig, denn das Ziel sei "ganz feine Bewegungen hinzukriegen, die die Wirbelsäule nicht stauchen".

Flo Böck kommt aus dem Unterallgäu. "Ich bin dort in schöner Natur groß geworden, die Berge mochte ich schon immer", sagt er mit Blick auf den Ammersee. Nach dem Abitur hat er angefangen, BWL mit dem Schwerpunkt Finanzwesen zu studieren. "Ich war da überhaupt nicht happy", gibt er zu. Nach einiger Zeit habe er begonnen, die Dinge zu hinterfragen: "Warum ist unsere Welt, so wie sie ist? Warum betreiben wir Raubbau an unserem Planeten?"

Diese Fragen beschäftigen ihn bis heute. Er hat dann die soziale Arbeit für sich entdeckt und jungen Geflüchteten geholfen. "Danach hat es mich immer mehr nach draußen gezogen, auch beruflich, im Büro zu sitzen, hat mir weniger Spaß gemacht". Nach einiger Zeit macht sich in ihrem der Freiheitsdrang und der Liebe zur Natur breit. "Ich habe eine Auszeit vom sozialen Arbeitsstudium genommen, war für ein halbes Jahr auf La Gomera und bin dort einem Wildnispädagogen begegnet". Dieser habe mit ihm das Coyote Teaching durchgeführt.

Coyote Teaching sei eine äußerst effektive Art des traditionellen Lehrens, die indigene Völker seit Tausenden von Jahren erfolgreich praktizierten. Ziel sei "immer die Neugier vom Lernenden am Laufen zu halten", erklärt Böck. Er sei mit dem Wildnispädagogen über die Insel gestreift und gleichsam zurückgekehrt zu den Ursprüngen.

"Ich wusste plötzlich, wie ich mich in der freien Wildbahn bewegen kann, mit möglichst wenig Tools, nur noch ein Schlafsack, eine Wasserflasche, vielleicht ein paar Streichhölzer". Er habe auf diesem Weg viele neue Dinge gelernt, unter anderem das Feuerbohren. "Dieses alte Wissen hat mich fasziniert, jeder Tag war wie im Paradies, die Natur war so voller Fülle. Ich bin in dieser Zeit aufgeblüht wie davor noch nie. Und dann war mir klar, das will ich in mein Leben integrieren", erzählt der 34-Jährige begeistert.

Jetzt ist absolute Ruhe gefragt. Handy ausschalten, zu sich selbst kommen. "Normalerweise bin ich kaum ansprechbar, wenn ich das mache. Es geht darum, in die Stille zu gehen, zu entspannen". Er muss sich ganz auf sich selbst fokussieren können. Böck breitet mehrere Lammfelle unter der Weide aus und legt sich darauf. An seinen Füßen befestigt er gepolsterte Manschetten, daran das gelbe Seil. Dann streckt er seine Beine in die Luft. Als Unterstützung nimmt er einen Blackroll Duoball zur Hand und legt diesen unter seinen Rücken. "Die Rolle gibt die Impulse beim Selbstaushängen". Durch die drei Flaschenzüge wird sein Gewicht gedrittelt, er zieht mit einem Zug nicht seinen kompletten Körper in die Luft. "Es ist echt easy", und er könne dabei so passiv wie möglich bleiben, das sei sehr wichtig beim Hangab.

Für den 34-Jährigen sind drei Dinge besonders wichtig im Leben: "Stimme, Körper, Natur, das sind meine Leidenschaftsthemen, vor allem auch mit Amelie zusammen", sagt er und grinst. Flo Böck und Amelie Mehru haben sich im Sommer 2018 kennengelernt: "An einem schönen Junitag sind wir uns an einem Lagerfeuer im Alpenvorland begegnet. Am nächsten Morgen standen wir nackt auf einer Kuhwiese." Dort hat Amelie Mehru dem jungen Mann seinen ersten Jodler beigebracht.

Amelie Mehru ist Psychologin und Yogalehrerin, sie stammt aus dem Saarland. "Sie hat da eigentlich nichts mit Jodeln am Hut, aber sie hat mir alles beigebracht, was sie wusste", berichtet Böck. Das Jodeln verbinde sie beiden. "Wenn mal ein blöder Tag ist, jodeln Amelie und ich zusammen, und dann schaut die Welt auch wieder anders aus". Ein Jahr später, 2019, haben die Freiheitssuchenden ihre Wohnung in München aufgegeben und sich einen alten Feuerwehrbus geholt. "Wir haben unser Leben radikal minimiert, Sachen aussortiert, verschenkt, verkauft. Ein paar Schätze sind bei meinen Eltern eingelagert. Seitdem sind wir seit mehr als zwei Jahren auf nomadischer Wanderschaft, musikalisch und mit dem Bus unterwegs".

Für ein paar Wochen genießen sie den Ammersee. Wo es danach hingeht, ist noch ungewiss. "Wir planen meistens nicht länger als zwei bis drei Wochen im Voraus".

Böcks Beine hängen mittlerweile schon ein paar Minuten in der Luft, sein Oberkörper liegt noch auf den Lammfellen. Und dann wird gezogen, peu à peu. "Wir gewöhnen das Herz daran, dass es nicht in den Kopf, sondern in die Füße pumpen muss." Die Organe würden in dieser passiven Umkehrhaltung, wie bei der natürlichen Geburt mit dem Kopf voraus, neu kalibriert. So entstehe kein unangenehmer Druck im Kopf. Das Gesäß hängt jetzt in der Luft: kurze Pause. "Hier sind schon super Stationen, um auf Entdeckungsreise zu gehen". Der untere Rücken werde schon nach diesen wenigen Zügen entlastet. Flo bemerkt, dass sich bei ihm nach zwei Wochen wieder etwas angestaut hat. Verspannte Muskeln könnten jetzt aushängen und loslassen.

Der junge Mann atmet laut aus. Es sei wichtig, mit der Stimme zu arbeiten, "alle Töne, leise und laut rauszulassen". Noch ein Zug, und er schwebt mit seinem unteren Rücken circa 15 Zentimeter über dem Boden. Er streckt seinen linken Arm nach oben und legt ihn ganz langsam auf der anderen Seite ab. "Ich versuche, nur die Muskeln von meinem Arm zu benutzen. Alles andere soll entspannen." Dann dehnt er sich auf dieser Seite. In dieser Position erreiche er sein "Wohlgefühl". "Es wollen automatisch Seufzer und Stöhner raus. Das ist ein bisschen so wie bei einer Katze, die schnurrt. Sie beruhigt so ihre Mitmenschen und zeigt, dass es ihr gut geht, aber sie beruhigt sich so auch selbst."

Amelie Mehru und Flo Böck haben viel entdeckt auf ihrer Wanderschaft. Doch haben die beiden denn ihren ganz eigenen Wohlfühlort, ihre Heimat auch gefunden? "Es ist auf jeden Fall ein neues Gefühl von Heimat. Und es geht sehr schnell, dass ich mich an neuen Plätzen heimisch fühle und dann dort Wurzeln in den Boden stecke. Gleichzeitig tut es auch weh, die wieder rauszureißen und weiter zu ziehen. Das ist immer so ein Drahtseilakt", sagt Böck etwas wehmütig.

Für seinen nächsten Zug benötigt er nicht das Seil, sondern den Steigbügel, der das Hochziehen erleichtert. Einatmen und Ausatmen. Manchmal knackst es. Das sei aber auch gut so, denn dann "kann die Wirbelsäule loslassen". Sein Körper hängt nun fast vollständig in der Luft, nur sein Kopf liegt noch auf dem Boden ab. Diese Position eigne sich bestens für eine Nackenmassage, da dort viel Anspannung herrschen. Doch nicht nur da: Auch in den Hüften befinden sich "viele gespeicherte Emotionen, die nicht immer herausgelassen werden", so jedenfalls Böck.

Ein letzter Zug, und dann schwebt er über dem Boden. "Es ist ein Gefühl von Loslassen. Die Welt steht jetzt Kopf", sagt er mit einer nun etwas anderen Stimme, nasal.

Leichter Wind bläst über die Weide. Das sei schön: "sich dem Wind auszusetzen, wo baumelt es mich hin?". Er zieht sich am Seil noch ein Stückchen höher, damit seine Arme frei schweben. Flo Böck sieht zufrieden aus, so kopfüber: "Ich liebe den Perspektivwechsel."

Eine einzige Schnurr baumelt noch an seinem Körper herunter. Diese lässt ihn wieder zu Boden kommen. Noch ein letztes lautes Ausatmen, dann geht es wieder herunter. Kurz vor dem Boden winkelt er seine Beine an, um den unteren Rücken noch einmal zu entlasten. Dann ist er wieder unten angekommen. Die Welt steht wieder gerade. Und wie geht es nun weiter?

"Wir wissen nicht, wann wir wieder sesshaft werden. Aber die Sehnsucht anzukommen wird immer größer." Amelie Mehru und Flo Böck sind noch auf der Suche nach einem geeigneten Plätzchen zum Niederlassen. Dort möchten die beiden dann das verwirklichen, was sie in die Welt bringen wollen: "Ein musikalisch-naturverbundenes Ökodorf, inspiriert mit Permakultur", erklärt Flo Böck. Aber das "steht noch alles in den Sternen".

Amelie Mehru und Flo Böck bieten regelmäßig Jodelwanderungen an. "In einer Gruppe zusammen zu jodeln, das macht immer etwas, es berührt voll das Herz." Infos unter www.voice-of-nature.de oder per Mail an voiceofnature11@gmail.com.

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Quelle:
SZ vom 23.11.2021
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