HistorieDetektivarbeit in alten Akten

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Claus Strobl ist der neue Uttinger Ortschronist - hier mit dem Flächennutzungsplan von 1951.
Claus Strobl ist der neue Uttinger Ortschronist - hier mit dem Flächennutzungsplan von 1951. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Claus Strobl ist Ortschronist aus Leidenschaft. Derzeit erstellt er ein Lexikon der Uttinger Straßennamen und arbeitet seit September auch im Gemeindearchiv mit.

Von Renate Greil, Utting

Mit Leidenschaft und Forscherdrang kümmert sich Banker Claus Strobl, 60, in seinem Vorruhestand nun als offizieller Chronist um die Geschichte in seiner Wahlheimat Utting. Seit September ist er immer montags im Rathaus anzutreffen und hilft auch der Archivarin Regina Simon dabei, das Archiv zu erschließen. Die Liste seiner heimatgeschichtlichen Projekte ist ebenso lang wie umfangreich. Vieles betreibt er gleichzeitig, weil er oft „wochenlang auf Antwort aus Archiven wartet“. Kurz vor der Veröffentlichung ist ein Straßennamen-Lexikon, das er als Broschüre zusammen mit dem Verein Kulturlandschaft Ammersee-Lech mit finanzieller Unterstützung aus EU-Mitteln durch die Lokale Aktionsgruppe Ammersee (LAG) publiziert. Geschätzte tausend Stunden Arbeit hat er in das etwa 100-seitige Büchlein gesteckt, in das er auch Anekdoten aus den jeweiligen Straßen eingestreut hat. „Ich wollte es nicht ganz so trocken machen“, sagt Strobl. 

Schon als 13-jähriger Bub erwachte bei Strobl das Interesse an Geschichte – und zwar zunächst an seiner eigenen Familiengeschichte, die ihn vierzig Jahre lang beschäftigen sollte. Sein Großvater zeigte ihm damals einen Stammbaum, seinen sogenannten „Ariernachweis“, den dieser damals bei den Ämtern vorlegen musste, um 1939 eine Molkerei in Miltenberg am Main zu eröffnen.

Er habe eine Vorliebe für Struktur, sagt Strobl, der bei den Großeltern in Miltenberg aufgewachsen ist. Anfangs hat er die Familienstammbäume noch per Hand gezeichnet, später setzte er Software ein. Mehr als 6500 Personen hat er in seiner Familiendatenbank, davon an die 450 direkte Vorfahren, die zum Teil auch in die USA ausgewandert waren. Die meisten seiner Vorfahren stammen aus dem Chiemgau und der niederbayerischen Ecke.

Dass er Claus heißt, sei der mütterlich preußischen Linie zu verdanken, erzählt Strobl, der kein Bayrisch spricht. Aber er habe auch einen Vorfahren, der im 17. Jahrhundert einen Bauernaufstand in Rosenheim angezettelt hat. Die Arbeit am Familienarchiv hat Strobl nach vierzig Jahren beendet. Interessiert hat ihn dabei besonders der gesellschaftliche Kontext. Gab es Hungersnöte oder andere Katastrophen, die Ortswechsel veranlassten? Wie haben sich die Paare gefunden? Als „historische Detektivarbeit“ bezeichnet Strobl seine Tätigkeit. Es sind Verbindungen, die Strobl besonders interessieren. Eine einfache Frage zu recherchieren, ist bei ihm nicht in zehn Minuten erledigt. „Da sind drei Stunden weg wie nichts“, sagt er. Denn er arbeite auf wissenschaftlichem Niveau, sagt der Diplom-Kaufmann.

In einem alten Fotoalbum zeigt Strobl Bilder vom Bau der Straße nach Dießen vor 100 Jahren.
In einem alten Fotoalbum zeigt Strobl Bilder vom Bau der Straße nach Dießen vor 100 Jahren. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Als Student hat Strobl die Chronik der großväterlichen Molkerei verfasst. Dass er damals Betriebswirtschaftslehre und nicht Geschichte studiert hat, daran hat der Großvater auch einen Anteil, denn jeden Samstag hat Strobl in dessen Molkerei die Korrespondenz erledigt und die Bücher geführt und dafür einen Stundenlohn von fünf Mark bekommen. 1991 fing er bei der Bayerischen Vereinsbank an, heute UniCredit Group. Im November 2023 ist er im Zuge von bankinternen Umstrukturierungen in den Vorruhestand gegangen. So hat er nun Zeit für seine Chronisten-Tätigkeit. 

Seit 2008 wohnt er mit seiner Familie in Utting. Der Ort ist für ihn zu einer Heimat geworden. Gleich von Interesse war für ihn war, wer hinter dem Namensgeber seiner neuen Adresse im Baugebiet Seepark steht. Die Geschichte des Seeparks selbst, das auf dem Gelände des ehemaligen Betonwerks Dyckerhoff & Widmann entstand, bot ihm alleine schon Stoff für drei Bände. Beleuchtet hat er im ersten Band den Zeitabschnitt 1944 bis 1945. Jüdische Häftlinge aus dem Lager X, so hieß das KZ-Außenlager, das vom 18. April 1944 bis zum 8. Mai 1945 in Utting existierte, wurden darin nach der Devise „Vernichtung durch Arbeit“ zu unmenschlicher, todbringender Schwerstarbeit gezwungen. Über dieses und weitere Themen hat er für die Dorfchronik 900 Jahre Utting 2022 Artikel verfasst. Strobl schaut gerne dort genauer hin, worüber bisher kaum berichtet wurde.

Manch ein Thema entdeckt der Chronist zufällig

Die Themen seiner historischen Nachforschungen finden sich manchmal auch zufällig. So wurde Strobl bei einem Spaziergang auf ein Seegrundstück hingewiesen, wo der oberste Parteirichter der NSDAP, Walter Buch, von 1937 bis 1945 wohnte. Dessen älteste Tochter Gerda heiratete 1929 Martin Bormann, sie bekamen zehn Kinder. Auch diese Recherche sei schon ziemlich weit gediehen, sagt Strobl. Ihm fehle noch die NS-Akte aus amerikanischen Archiven, aber es sei ihm beispielsweise gelungen, mit einem Nachfahren in Bozen zu sprechen. Rund zweihundert Seiten wird diese Publikation haben. Das persönliche Gespräch ist ihm wichtig, dabei sei es nicht seine Aufgabe zu bewerten, sondern zuzuhören.

In Arbeit ist auch eine Webseite „Utting im Porträt“, die Strobl selbst betreiben wird. Die bisher fertigen Arbeiten über Kammersänger Max Schlosser und Pfarrer Helmut Rupprecht werden dort veröffentlicht. Weitere Themen sind Häusergeschichten, das Künstlerehepaar Mathias und Anna Gasteiger und ein Flurnamen-Lexikon. Auch für die JES-Kulturstiftung aus Holzhausen, die sich um Erinnerung an die Holzhauser Künstler und ihre Werke kümmert, ist er vorwiegend im Bereich Recherche tätig. Strobl hat sich einiges vorgenommen, aber es bleibt ihm noch Zeit, sich als ausgebildeter Alltagshelfer im Verein Füreinander ehrenamtlich zu engagieren: Er betreut derzeit ein älteres Ehepaar in Utting, dem Ort, in dem auch er alt werden möchte.

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