Unterwegs mit dem Motorrad:Reise in die Familiengeschichte

Dieter Heßmann aus Wörthsee und sein Sohn Christian begeben sich mit Motorrädern auf eine emotionale Suche

Von Christine Setzwein, Wörthsee

Drei Jahre lang galt Wilhelm Heßmann als vermisst. Bis 1948 hofften seine Frau Maria und die acht Kinder, dass ihr Mann und Vater zurückkommt aus russischer Kriegsgefangenschaft. Aber da war Polizeimeister Heßmann längst tot. Am 10. April 1945 war er in Königsberg den Russen in die Hände gefallen, am 7. November 1945 starb er im Gefangenenlager Sapogowo. Als Todesursache wurde "Dystrophie" attestiert, was so viel heißt, dass Heßmann in der ehemaligen Irrenanstalt, etwa zehn Kilometer von Kursk entfernt, krank und ausgezehrt gestorben ist. Mit 44 Jahren. Zwischen Dezember 1944 und Dezember 1949 kamen in dem Lager 8000 Menschen ums Leben.

Weihnachten 1944 hat Dieter Heßmann seinen Vater zum letzten Mal gesehen. Da war er sechs Jahre alt. Jetzt, mit 78, stand der Wörthseer vor dem Grab seines Vaters. In Sapogowo, auf dem so genannten Karnickel-Berg.

Genau 4874 Kilometer sind Dieter Heßmann und sein Sohn Christian gefahren, durch sieben Länder und über elf Grenzübergänge. Und das Ganze auf dem Motorrad. Zwei Reise-Enduros hatten sie sich von BMW gemietet für die 15-Tage-Tour. Flugzeug, Bahn oder Autos war nicht in Frage gekommen. "Mit dem Motorrad ist man unabhängig und flexibel, einfach perfekt", sagt Dieter Heßmann, der seinen Motorradführerschein seit 2001 hat. Er hätte die Reise nach Russland auch alleine gemacht. Dass Sohn Christian, 39, mitkam, hat ihn aber schon sehr gefreut.

Seit Jahren schon wollte Heßmann wissen, was mit seinem Vater passierte, nachdem er in Kriegsgefangenschaft geraten war. Wilhelm Heßmann, ein Halbwaise aus Westfalen, der eigentlich immer Landwirt sein wollte, wurde schließlich Polizeibeamter und von den Nazis mit seiner Familie nach Polen, in das damalige Mielau, heute Mława, geschickt. Wie der Vater kurz vor Kriegsende, bevor die Rote Armee die Stadt einnehmen konnte, die Familie zurück ins sichere Westfalen schaffen konnte, ist seinem Sohn heute noch ein Rätsel. Dass Wilhelm in Sapogowo starb, erfuhr er nach einer Suchanfrage 1994 vom Roten Kreuz. Nur wo sein Vater begraben war, wusste niemand. So begann der Sohn zu recherchieren. Danach war er sich sicher, dass Wilhelm Heßmann nur in der Nähe des Lagers seine letzte Ruhestätte gefunden haben könne. "Ich hatte alles im Kopf, die Straße, die Wiese, das Gefangenenlager."

Am 5. September machen sich Dieter und Christian Heßmann auf den Weg von Wörthsee nach Sapogowo. Dort, auf dem Hügel in der Siedlung Iskra, vermuten sie das Grab. Die Fahrt geht über Passau, Österreich, Tschechien, Slowakei, Polen durch die Ukraine bis nach Russland. Christian, Informatiker beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt in Oberpfaffenhofen und dort am Projekt Galileo beteiligt, führt ein Reisetagebuch für die Familie daheim in Wörthsee und Germering. Die Motorradfahrer erfahren viel über den Verkehr in den Ländern, über die Straßenqualität, das Essen und natürlich über die Bewohner. Typisch polnisches Essen zum Beispiel ist "Fleisch mit Fleisch, dazu ein bisschen Fleisch als Beilage".

Sprachlich mussten die Beiden viel improvisieren. Denn mit Deutsch war es in der Ukraine definitiv vorbei. "In Polen, selbst ganz im Osten, hat das meistens noch besser funktioniert als Englisch, in der Ukraine kann man froh sein, wenn jemand Englisch spricht", erzählt der 39-Jährige. Dafür seien sämtliche Verkehrsschilder in kyrillisch und lateinisch, "das ist praktisch, sowohl zur Orientierung als auch zum Lernen von Kyrillisch. Da kommt man sich wirklich vor wie ein Analphabet."

Grenze ist nicht gleich Grenze, auch das mussten die Wörthseer erfahren. Die durchschnittliche Wartezeit an EU-internen Grenzen dauerte Null Minuten, die an den externen: knappe 120 Minuten. Und: "Nach 3,5 Stunden Wartezeit lassen uns die Russen endlich ins Land." Für Dieter Heßmann waren die Grenzkontrollen oft "erniedrigend", sagt er. Und zieht sein eigenes Fazit: "Wer noch einmal schlecht über die EU spricht, der soll mal in die Ukraine und nach Russland fahren." Um gleich darauf zu loben. Die Russen seien so nett und hilfsbereit, "über die lass ich nichts kommen". Russland ist nicht Putin, sagt er.

Heßmann Wörthsee

Das Grab des Großvaters befindet sich auf einer Wiese bei Sapogowo

(Foto: Christian Heßmann)

Schon vor der Reise hatten die Heßmanns mit einer Uniprofessorin aus Kursk Kontakt aufgenommen, die Germanistik unterrichtet. Svetlana fuhr mit den Besuchern aus Deutschland nach Sapogowo. "Wir haben heute tatsächlich mit ziemlicher Sicherheit die letzte Ruhestätte von Wilhelm Heßmann gefunden", berichtete der Enkel am 12. September nach Hause. "Genau dort, wo Dieter sie vermutet hatte, auf einem kleinen Hügel in Sapogowo, heute Iskra, nordöstlich von Kursk." Auf der Wiese steht ein schlichtes großes Kreuz mit einer Gedenktafel: "Hier ruhen Kriegsgefangene - Opfer des zweiten Weltkrieges". Rund um die Gedenktafel verstreut Dieter Heßmann ein bisschen Heimaterde, die er mitgebracht hat. Er ist erleichtert, und er freut sich. Die Wiese, auf deren anderer Seite rumänische Soldaten beerdigt sind, sieht sehr gepflegt aus. "Ein würdiges Grab." Ob es sich um Einzelgräber oder - eher anzunehmen - um ein Massengrab handelt, wissen die Besucher nicht. Wer es errichtet hat und sich darum kümmert, ist ihnen auch nicht bekannt. "Aber das will ich noch herausfinden", sagt Dieter Heßmann. Was er auf keinen Fall will: dass die Gebeine umgesiedelt und in zentrale Kriegsgräberstätten umgebettet werden, wie es der Volksbund deutscher Kriegsgräberfürsorge schon oft praktiziert habe. "Wir sollten die Menschen ruhen lasen", meint der 78-Jährige.

Die Reise nach Russland hat nicht nur für Dieter Heßmann Gewissheit über das Grab seines Vaters gebracht. Christian Heßmann durfte eine spannende Fahrt in die Familienhistorie machen. Besonders schön aber empfand er die "Vater-Sohn-Beziehung" in diesen zwei Wochen. Und die Frage, die ihm immer wieder gestellt wurde, ob sein Vater nicht zu alt sei für solche Unternehmungen, kann er ganz eindeutig mit "Nein" beantworten.

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