Ein gezielter Handgriff zum Schalter, und ein wuchtiger schwarzer Elektromotor am Holzboden beginnt zu rumpeln und zu rattern. Dutzende Zahnräder drehen sich, Hermann Geiger steht daneben und ist im Glück: „Hundert Zahnradl da drinnen und dann kommt eine Uhrzeit raus.“ So kann man es auch sehen. Aus seinen hellblauen Augen strahlt der Unterbrunner seine Besucher in einem seiner vielen Räume mit Ausstellungsstücken an: „Darauf bin ich richtig stolz“, sagt er. Es ist das Uhrwerk der alten Kirchturmuhr aus dem Nachbardorf Oberbrunn, das er 2009 selbst demontiert hat. Mehrere Zwischenböden habe er dafür herausgeschnitten, das schwere Trumm mit einem Flaschenzug nach unten befördert und nach Hause transportiert. Jetzt ist es eines von zahllosen Exponaten in einer schier unübersehbaren Sammlung.
Auf geht’s zu einem schnellen Rundgang in einer ungewöhnlichen Ausstellung. Zumindest in einem Teil davon, denn Geiger hat im Lauf von Jahrzehnten so viel eingesammelt, geborgen und aufgestapelt, dass ein ganzer Tag gar nicht ausreichen würde, um alles zu betrachten. Diverse Räume und Hallen in seinem Bauernhof in Unterbrunn sind dafür nicht genug. Ein Teil seiner Funde befindet sich auch in leer stehenden Trakten auf dem Gelände der Asklepios-Klinik am Rand von Gauting. Unterbrunn, das ist übrigens der kleine Ort etwa zehn Kilometer nördlich von Starnberg, der überregional vor allem für seine Maibaumdiebe bekannt ist.
Ein Beispiel für einen von vielen Zufallsfunden, die dort nun aufbewahrt werden: In einem Holzstadel an der Straße nach Hochstadt entdeckte Geiger unter dem Vordach alte Bretter, auf denen ein Bild von Moses mit den Zehn Geboten zu erkennen war. Wie sich herausstellte, stammten die Bretter aus der alten Oberbrunner Kirche von 1862 und wurden als Verschalung verbaut. Geiger hat ein neues Vordach gebaut und durfte die Bretter mitnehmen. So erzählt er es. So wie er zu so ziemlich jedem Stück eine Geschichte erzählen kann.
Zum Beispiel die mit dem Lebensmittelladen in Giesing. Eigentlich ging es nur darum, ein altes Grammophon mit Münz-Einwurf abzuholen. Dabei wurde ihm das komplette Inventar eines seit 18 Jahren geschlossenen Geschäfts angeboten. Geiger überlegt nicht lange, und jetzt befindet sich der Laden in seinem Lager im Krankenhausareal.
Einmal hat die Sammelleidenschaft Geiger sogar vor Gericht gebracht. Er hebt ja gerne alles auf. Aber es gibt eben auch Dinge, die man nicht so einfach behalten darf, Waffen zum Beispiel. So befanden sich auf seinem Hof zwei Pistolen, fünf Gewehre, Schießpulver und eine funktionsfähige Kalaschnikow. Ein Teil der Schusswaffen war geerbt und befand sich schon lange im Haus. Das Starnberger Amtsgericht verurteilte ihn zu einer Bewährungsstrafe, die Waffen musste er abgeben, was er gerade bei den Erbstücken sehr bedauerte. Das ist jetzt 30 Jahre her, damals schon hat sich sein Sammelsurium auf etliche Räume und Hallen erstreckt. Inzwischen ist noch einiges dazugekommen.



Es gibt fast nichts, was es beim Geiger nicht gibt. Wahllos herausgegriffen aus vielen Zeugnissen der Zeitgeschichte: Eine Weihnachtskrippe aus einem Haus an der Kreuzlingerforstsraße in Gauting, das abgerissen wurde, ein Trinkhorn, altes Spielzeug aus einem Speicher in Germering, eine Flasche Macholl-Cognac von 1912, eine Drehorgel mit mehr als hundert Lochplatten mit Musik, ein Filmprojektor aus einem Kino, ein Stück Holz mit einem Granatsplitter drin, eine Tischkegelbahn aus der Schlosswirtschaft Leutstetten, ein fast 100 Jahre alter Ford-Traktor aus Thüringen, zwei Trabis aus der DDR, mobile Sägen, mehrfach reparierte und aufgedoppelte Schuhe, ein Modell-Euter für Melkkurse in Unterbrunn, dazu Fotos mit Mutter und Tante als Teilnehmerinnen drauf, Dutzende Wanduhren und Röhrenradios, das Auftragsbuch eines Schusters, Inventar aus einer Schule in Gräfelfing, hölzerne Kegel aus diversen Kegelbahnen, der Kinderwagen, in dem Geiger selbst gelegen hat, eine Holzkiste, mit denen Flüchtlinge in Pentenried angekommen sind, Hufeisen, eine Ritterrüstung und hundert Meter Aktenordner.
Trotz dieser Fülle herrscht kein Chaos, alles ist thematisch geordnet, hier das Thema Schule, dort der Schuster, Spiele sind in einer Ecke, für die Möbel gibt es eigene Räume. Angesichts der schieren Menge kommt doch die Frage auf, wie es einem Menschen überhaupt möglich ist, all das aufzustöbern, aus Kellern und Dachstühlen, von Wertstoffhöfen und Baugruben zu bergen, um es zu behalten, es aufzustapeln, einzusortieren und teilweise auch noch zu beschriften. Was treibt so jemanden an? Was steckt hinter dieser Sammelleidenschaft, die ja auch viel Zeit und Energie kostet? Da hält Geiger, der sonst kaum stillhalten kann, kurz inne, er stockt in seinem Erzählfluss. „Es ist Wahnsinn“, sagt er dann. „Irgendwie krankhaft. Unvollendet. Ich bräuchte noch zwei Leben, dass ich das noch irgendwie hinbringe.“ Es soll einfach nichts verloren gehen. Es mag Wahnsinn sein, aber es ist Wahnsinn mit Methode.


An diesem Donnerstag wird der Unterbrunner zum Ehrenbürger der Gemeinde Gauting ernannt, nachdem ihm bereits 2010 für die „Pflege von Brauchtum der Ortsgemeinschaft Unterbrunn“ die Bürgermedaille verliehen worden war. Seit mehr als 20 Jahren zeige er „Schätze aus seinem riesigen Geschichts-Fundus in einem eigenen Museum“, heißt es in einer Mitteilung der Gemeinde. Und er stelle sie stets zur Verfügung, wenn sie gebraucht werden. Wer sich seine Sammlung anschauen will, kann einen Termin vereinbaren unter der Telefonnummer 0171/9903096 oder per Mail an christa.geiger1957@googlemail.com. Gelegentlich kommen Gruppen zu ihm und bekommen eine Führung: „Eine, zwei, drei Stunden, so lange die Lust haben.“ Vor den Ferien haben sich zwei Schulklassen angekündigt.
Dazu kommt, dass Geiger in zahlreichen Vereinen aktiv ist und war: seit 50 Jahren Schriftführer bei der Feuerwehr, zwischendurch war er auch Kommandant, Vorsitzender im Gesangsverein seit mehr als 50 Jahren, bis vor einem Jahr Jagdvorstand, Ehrenbursch, Schriftführer beim Krieger- und Soldatenverein, er engagiert sich in der Kirchenverwaltung und im Pfarrgemeinderat und ist natürlich Mitglied im Sportverein. Auch im Gautinger Gemeinderat war er schon. Familienvater und Opa ist er auch. Und seine Firma für Gartenbau und Erdarbeiten gibt es auch noch. Am vergangenen Wochenende hatte er wieder besonders viel um die Ohren. Am Samstag 50 Jahre Sportverein, am Sonntag 25 Jahre Oldtimerverein. Beim Oldtimtertreffen wollte er an einem Stand zeigen, wie die alte Kartoffelbrennerei in Unterbrunn funktioniert hat.

Für seine Sammlung ist er über den Ort hinaus bekannt. Geiger hatte Auftritte in Fernsehsendungen, dem Bauernhofmuseum Jexhof in Fürstenfeldbruck hat er Stücke geliehen, im Kulturhaus Bosco in Gauting in einer Ausstellung eine Auswahl gezeigt. Für Filmaufnahmen hat er aus seinem Fundus Requisiten beigesteuert. Als Marcus H. Rosenmüller im Gautinger Krankenhausgelände Szenen für seinen Film über den Fußballer Bernhard Trautmann gedreht hat zum Beispiel. Oder bei Aufnahmen für „Colonia Dignidad“ mit Emma Watson. „Was sie halt gebraucht haben“, erzählt er. Einen Schubkarren, einen Mistbagger oder Körbe fürs Kartoffelklauben. Er hat ja alles.

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Noch nicht alles. Es kommt immer noch vor, dass noch ein Stück dazukommt. Denn beim Geiger, das hat sich herumgesprochen, wird es aufbewahrt. Da wird er angerufen, wenn gerade ausrangierte Gerätschaften eines Zahnarztes beim Wertstoffhof abgeladen werden. Röhrenradios und Wanduhren wurden ihm nicht stückweise, sondern gleich als Sammlung angeboten. „Das ganze Zeug, das haben sie mir nachgetragen. Das braucht ja kein Mensch mehr, das wird sonst alles weggeschmissen. Aber irgendeiner muss es doch aufheben“, sagt er ganz aufgeregt. Das klingt schon fast ein wenig verzweifelt angesichts einer Wahnsinnsaufgabe.
Ob er sich schon mal von etwas getrennt hat? „Nein, noch nie. Ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts hergegeben.“

