Amateursport:Die Titelschmiede für Hauen und Treten

Lesezeit: 6 Min.

Julian und Christopher Stadtherr sind Zwillinge - und die Vorzeige-Kämpfer des Clubs. (Foto: Nila Thiel)

Im Tutzinger Kampfsportclub wird gekickt und geschlagen, bis die Muskeln glühen. Gleich 20 Weltmeistertitel haben die Kickboxer gesammelt – auch dank einer Besonderheit in der Szene.

Von Viktoria Spinrad, Tutzing

Wie ein Tiger umtänzelt er seinen Gegner. Seine Fäuste drehen sich im Kreis, Lauerhaltung. Dann prescht Julian Stadtherr nach vorn zum Angriff. Mit der Linken zielt der 20-Jährige erst auf die Kopfhöhe und dann auf den Bauch. Dann gibt’s noch einen Fußtritt auf die Brust hinterher. Bamm. Jetzt schnell wieder der Rückzug. Die Fäuste vors Gesicht, Abwehrhaltung.

Ein Montagabend in der Tutzinger Würmseehalle: Im dumpfen Beat der Musik üben 22 Amateure und Ambitionen das präzise Hauen und Treten auf verschiedene Körperteile. Ein Meer aus schwarzen Beinschonern, roten Handschuhen und dumpfen Schlägen. Die Mienen konzentriert, die Hände flink. Und zwischendurch gibt’s noch eine Runde Liegestütze.

Der Tutzinger Kampfsportclub weiß, wie er seine Leute ins Schwitzen bringt. Das zahlt sich aus. Stolz präsentiert der Verein Erfolgsmeldung um Erfolgsmeldung. Hier ist wieder jemand bayerischer Meister geworden, dort jemand deutscher Meister, da wer Weltmeister. Allein Julian Stadtherr und sein Zwillingsbruder Chris, das Vorzeige-Duo des Vereins, können mit gleich zehn Weltmeistertiteln auftrumpfen. Insgesamt haben sie hier 20 Stück gesammelt über die Jahre. Viermal die Woche wird geschwitzt, geächzt, gestöhnt. Was treibt die Sportler ins Training? Und wie schafft es der Verein, so hochdekoriert zu sein?

19 Uhr, Aufwärmen. Die Arme preschen nach vorn, Front Kicks, Liegestütze. Bald hallt der Beat durch den Raum, die Bewegungen werden immer schneller. Liegestütze, Sit-ups, Kniebeugen, die ersten keuchen. Am Seitenrand steht ein Mann mit weißen Haaren und breiten Schultern und beobachtet das Warm-up. Es ist „Ossi“, also Walter Oswald. Ein Mann mit tätowiertem Rücken und dem dritten von zehn „Dan“, also Gürteln.

Gemeinsam dehnen sich die Sportler, um beweglich zu bleiben. (Foto: Nila Thiel)
Walter "Ossi" Oswald ist Gründer und Cheftrainer des Tutzinger Kampsportclubs. Hier soll es fair zugehen. "Ich will hier keinen Schlägertrupp haben", sagt er. (Foto: Nila Thiel)
Das Trainerteam (von links): Andreas Oswald, Carl Sperber, Walter Oswald und Nicolas Plaschke. (Foto: Nila Thiel)

Er ist der Gründer des Vereins. Als Kind schaute er Kung-Fu-Serien, später „Rocky“. Nach einer Trennung stürzte er sich in den Kampfsport. Und weil es in Tutzing in dieser Hinsicht nichts gab, gründete er 1997 den Klub. Tagsüber arbeitet er in der Qualitätskontrolle beim Pharmaunternehmen Verla-Pharm. Ansonsten: dreimal die Woche Fitnessstudio, dreimal die Woche den Nachwuchs pushen. „Die Leute, die herkommen, wollen trainieren“, sagt er. Und: „Man muss mit Herzblut dabei sein.“

Es geht in den Zweikampf. Julian Stadtherr tänzelt wieder um seinen Bruder Chris. 20 Jahre, 1,90 groß, fünf Jahre Kickbox-Erfahrung. Fußball, Tischtennis, Leichtathletik, sie haben schon einiges an Sportarten durch, doch beim Kickboxen blieben er und sein Bruder hängen. „Die beste Entscheidung“, sagt Julian. Hier kommen Konzentration, Ausdauer, Kraft und Beweglichkeit zusammen – und natürlich Adrenalin. Ein Leben ohne Kickboxen? Nicht mehr vorstellbar. „Dann würde ich mir einen Boxsack ins Zimmer hängen.“

Die Leidenschaft treibt an. Für Turniere waren sie schon in Österreich, Italien und Wales. Damit sie nicht untereinander konkurrieren müssen, hungert sich Chris auf 75 Kilogramm runter, während Julian zulangt am Büfett, damit es für die Gewichtsklasse ab 80 Kilo reicht. Das, sagt Julian, sei auf jeden Fall der angenehmere Part. Genau wie ein steter Sponsor, um die Kosten zu dämpfen.

Julian und Chris waren noch nicht geboren, als „Ossi“ in Tutzing mit seiner ersten Trainingsgruppe startete. Aus den 15 Leuten zu Beginn sind mittlerweile 163 geworden. Auch eine Kinderabteilung gibt es, wo schon die Kleinsten gestählt werden. Gerade mal 15 Euro im Monat kostet das Training die Mitglieder im Monat – woanders werden auch mal 70 oder 80 Euro verlangt. „Ich mach’s aus Überzeugung“, sagt Oswald. In der Szene hat sein Verein einen guten Ruf als strukturierter, harmonischer Verein, der nicht auf den Kommerz bedacht ist wie manch andere Clubs.

Samuel "Sammy" Partheymüller, 16, kämpft, seit er zwölf ist. Er hat Titel als mehrfacher bayerischer Meister, Europameister und Vizeweltmeister. (Foto: Nila Thiel)
Joy Holzer hat schon einige Medaillen vorzuweisen. (Foto: Nila Thiel)

Ein paar Meter weg von den beiden Zwillingen haben sich zwei Mädels ins Visier genommen. Joy Holzer, Gewichtsklasse 55 bis 60 Kilo, tritt nach vorn, lässt erst die Linke und dann die Rechte nach vorn preschen. Die 16-Jährige hat hier vor sechs Jahren im Kindertraining angefangen. Mittlerweile hat sie einen Sponsor – schließlich kostet allein ein gutes Paar Boxhandschuhe 100 Euro. Ihr gefällt, dass der Sport den ganzen Körper trainiert, es stets nach Punkten geht und man Selbstbewusstsein aufbaut. „Ich habe meine Sportart gefunden.“ Wie viele Medaillen sie gesammelt hat, weiß sie selber gar nicht so recht. Neun? Zehn? Klar ist: Mittlerweile hat auch sie einen Weltmeistertitel vorzuweisen.

Genau wie ihre Konkurrentin, die Angriffe mit gereckten Fäusten abwehrt: Stefanie Zapletal, 28, hat erst mit 21 Jahren mit dem Sport angefangen. Das habe ihr Bewusstsein für Fitness, Ernährung und Erholung geschult, sagt sie. „Beim Kickboxen bin ich einfach im Moment.“ Hier werde sie gepusht, sagt sie. Seit zwei Jahren kämpft sie bei Turnieren mit. 2023 dann das „Quadruple“: In einem Jahr wurde sie Fünfseencup-Siegerin, fränkische Meisterin, bayerische Meisterin und Weltmeisterin. Damit habe sie selbst gar nicht so richtig gerechnet, sagt sie. In wenigen Jahren ganz oben – wie ist das möglich?

Stefanie Zapletal ist noch nicht allzu lange dabei und hat trotzdem eine beeindruckende Titelsammlung. (Foto: Nila Thiel)
Sie sind hier stolz auf ihre Titel. Diese werden oft als Gürtel vergeben. (Foto: Nila Thiel)

Dafür muss man etwas tiefer in die Kickbox-Szene einsteigen. Der Nischensport ist nicht olympisch und eine entsprechende Spielwiese. Anders als beim Fußball gibt es nicht den einen großen Verband, sondern viele kleinere, einige davon privat. Wie viele, das wissen selbst die Verbandschefs nicht so ganz genau. Auf der einen Seite ist da der Platzhirsch, die World Association of Kickboxing Organizations (Wako), der einzige vom Olympischen Komitee anerkannte Verband. Wer Weltmeister werden will, muss sich von den Bezirksmeisterschaften her Runde um Runde hochkämpfen. In Deutschland sind hier mehr als 400 Vereine mit 28 000 Sportlern Mitglied. Die Tutzinger sind hier aber ausgetreten: Oswald war der Verband zu kommerziell.

Stattdessen sind die Tutzinger Mitglied in zwei deutlich kleineren Verbänden – dem „World Martial Arts Committee“ (WMAC) mit Sitz in einem Bregenzer Wohngebiet (4826 Mitglieder in Deutschland) und dem Deutschen Budo-Verband (DBV), der 13 Vereine, vor allem aus Bayern, unter sich hat. All diese Verbände dürfen ihre eigenen Wettbewerbe ausrichten – in Deutschland sind die Titel keine geschützten Begriffe. So kann es in einer Gewichtsklasse also nicht nur einen, sondern potenziell mehr als eine Handvoll Weltmeister geben. Bei der Wako sitzt der Frust darüber tief, schließlich nagt die Spaltung auch an der eigenen Legitimität. „Die Titel werden verramscht“, moniert Oliver Hahl, Präsident von Wako Deutschland.

In Tutzing sieht man das freilich anders. Jeder Verband behaupte eben, er sei der einzig Wahre, sagt Gründer Oswald und zieht eine Bildungsmetapher: Wenn jemand in Bayern Abitur mache, habe es in anderen Bundesländern ja denselben Stellenwert. Ähnlich sieht es Julian Stadtherr. „Egal, in welchem Verband man kämpft – jeder muss seine Leistung ablegen.“

Klar ist: Wäre der Kickboxsport kein Sport, in der jeder in der Dorfhalle seine eigene WM ausrichten kann, sondern organisiert wie der Fußball, wäre man hier kein 20-facher Weltmeister. Gleichzeitig haben die liberale Handhabe und die bunte Matrix an Verbänden, Kategorien, Alters- und Gewichtsklassen Vorteile, können sich die Tutzinger doch regelmäßig auf internationaler Bühne messen. Was macht das mit den jungen Kämpferinnen und Kämpfern?

Handschuhe, Fuß- und Schienbeinschutz, Kopfschutz, Tiefschutz, Mundschutz und Brustschutz bei Frauen sind obligatorisch. (Foto: Nila Thiel)
Ein ordentliches Paar Boxhandschuhe kann schnell 100 Euro kosten. (Foto: Nila Thiel)

In der Halle boxt Joy Holzer nun gegen einen männlichen Kontrahenten. Ein paar Schritte vor, Verteidigungshaltung – dann haut sie drauf. Sehr wendig sei sie, sagt Oswald, mit einem guten Auge. „Sobald was frei wird, haut die rein.“ Einen Punkt gibt es für erfolgreiche Schläge oder Tritte gegen den Bauch oder den Kopf, zwei für Kopftritte, drei für eine gesprungene Version davon. Wer nach drei Runden mehr Punkte hat, ist Sieger – vorausgesetzt, vorher geht keiner K.o.

Gleich drei Punktrichter und ein Hauptkampfrichter wachen bei Turnieren über die Schläge und Tritte. Kämpfen im Spotlight, das motiviert die jungen Leute hier. Ohne die Wettbewerbe würde sie wohl nicht ganz so oft ins Training gehen, sagt etwa Joy Holzer. Vor Ort sei sie dann wie im Tunnel, „da höre ich nur noch den Trainer und den Gegner.“ Durch die Wettkämpfe, findet auch Stefanie Zapletal, habe man ein klares Ziel: „Das gibt mir Antrieb.“ Und ohne Wettkämpfe? Da überlegt Julian Stadtherr kurz. Er wäre wohl etwas weniger motiviert, sagt er, aber Kickboxen würde er trotzdem. „Ich liebe den Sport.“

Ja, sie sind hier eine Titelschmiede – das garantiert Aufmerksamkeit von außen. Aber sie sind eben auch mehr. Alle schwärmen sie vom guten Zusammenhalt in der Gruppe. Dem anderen beim Umzug helfen, gemeinsam auf dem Stadlfest tanzen, im Mietbus über den Brenner fahren, eine Burg besichtigen, gemeinsam das „All-you-can-eat“-Büffet plündern. „Hier entstehen richtige Freundschaften“, sagt Joy Holzer. „Es ist meine zweite Familie“, sagt Trainer Ossi. Familie ist auch das, was den Verein zusammenhält: Seine Nichte und seine Schwester leiten die Kinder an.

20.24 Uhr, Cooldown: 22 Athleten stehen im hölzernen Fensterrahmen und dehnen sich. Aushängen, die Muskeln entspannen. Im September steht die nächste Weltmeisterschaft an, die „World Martial Arts Games“. Diesmal geht es nach Tschechien. Julian Stadtherr ist beim letzten Mal sowohl im Leicht- als auch im Vollkontakt angetreten. Beim gedrosselten Hauen und Treten wurde er zuletzt Weltmeister, beim Schlagen mit gesammelter Kraft unterlag er im Finale. Und diesmal? „Jetzt will ich Weltmeister werden.“

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusStarnberger See
:Wie Bayerns jüngster Bürgermeister Tutzing umkrempelt

Seit etwas mehr als 100 Tagen sitzt mit Ludwig Horn die Generation Z im Rathaussessel. Doch kann er auch mehr als Instagram? Unterwegs mit einem 27-jährigen CSU-Politiker, der aus wenig viel machen will.

Von Viktoria Spinrad

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: