Süddeutsche Zeitung

Tutzing:Gebündelte Kräfte

Architekten und Kreative diskutieren in der Politischen Akademie über die spannende Gestaltung von Innenstädten und das Regensburger Modell, das Künstlern mehr Gewicht gibt

Von Patrizia Steipe, Tutzing

"Traurig" sei der Anblick des verwaisten Einkaufszentrums und der leeren Geschäfte in Starnberg gewesen, bedauerte Architekt Jan Knikker, der beim niederländischen Architekturbüro MVRDV die Position Director Strategy & Development hat. Vor seinem Referat über kreative Innenstädte hatte er sich die Kreisstadt angeschaut und auch ihr Potenzial bemerkt. Zum Beispiel gebe es viele ungenützte Dachflächen. Bei einer Diskussion zum Thema "Kultur- und Kreativwirtschaft - Unterschätzter Wirtschaftsfaktor mit gesellschaftlicher Wirkung" gemeinsam mit der Gesellschaft für Wirtschafts- und Tourismusentwicklung (Gwt) in der Akademie für Politische Bildung entwickelten die Teilnehmer Visionen und Ideen, wie Innenstädte revitalisiert werden könnten.

Ein künstlich aufgeschütteter Berg mitten in der Stadt, ein ganzer Park auf einem Gebäude, ein gläsernes Bauernhaus oder einfach auf den Kopf gestellte Architekturentwürfe - die Bilder, die Knikker mitgebracht hatte, bezeichnete Moderator Gero Kellermann als "Inspirationsschock". Die originellen Architekturen werden weltweit gefeiert. Sie zu realisieren, sei aber "ein Kampf und nie einfach" gewesen und mit viel Bürokratie, Überzeugungs- und Aufklärungsarbeit verbunden. Michael Ehret, Immobilienökonom und Geschäftsführer der "Ehret + Klein GmbH", der mit der Künstlerin Gesine Dorschner und Kinobetreiber Matthias Helwig nach den Impulsvorträgen auf dem Podium saß, konnte dem nur zustimmen. Ende April sollte die zehn Meter hohe "Wiege von Starnberg" neben dem Museum eröffnet werden und den Platz als Zwischennutzung beleben. Bis jetzt ist daraus nichts geworden: Die Genehmigung, das Kunstwerk zu betreten, um von oben einen Blick auf den See werfen zu können, sei zwar in Aussicht gestellt, aber vom Landratsamt bisher noch nicht erteilt worden, bedauerte Ehret.

"Klein anfangen und groß denken", regte Carola Kupfer, Präsidentin des Bayerischen Landesverbands der Kultur- und Kreativwirtschaft an. Dazu sei jetzt die beste Gelegenheit, so Philipp Ernst vom selben Verband. Schließlich würden die vielen Leerstände in den Innenstädten, die seit Corona zugenommen hätten, dazu einladen, Neues zu entwickeln.

"Wille und Mut" seien notwendig, um dem drögen Einerlei europäischer Einkaufsstraßen etwas entgegenzusetzen. "Lasst die Kreativen spinnen - immer nur das Gleiche, dann wird es langweilig", sagte Helwig, der gerne attraktivere Vororte für junge Leute hätte. Dorschner griff eine Idee Knikkers auf und regte kleine Geschäftsstraßen ausschließlich für Künstler und Familienbetriebe an, die sich mit ihrem Sortiment von den Ketten und Franchiseunternehmen unterschieden. "Hauptziel sollte sein, Begegnungen zu schaffen".

In Starnberg könnte bald "etwas Visionäres" entstehen, sagte Gwt-Geschäftsführer Christoph Winkelkötter. Im Gewerbegebiet Moosanger hätten sich Grundeigentümer für ein Projekt zusammengefunden, das etwas Besonderes werden soll.

Um aus der Falle der Ausbeutung herauszukommen, regte Kupfer an, Kultur zu institutionalisieren. Das sei beispielsweise in Regensburg gelungen. Anfangs herrschte dort "das übliche Durcheinander aus unglaublich vielen Einzelkämpfern". An Netzwerkabenden hätten sich die Kreativen in verschiedene Themenbereiche aufgeteilt, Sprecher gewählt und ein Kreativforum als Verein gegründet. Mit weitreichenden Folgen. "Wir sind sichtbar geworden und werden als Experten in die Stadt- und Regionalplanung einbezogen." Außerdem sei ein krisensicheres Netzwerk entstanden.

Dass dies gelingen konnte, sei auch der Unterstützung der Wirtschaftsförderer zu verdanken, so Kupfer. In Starnberg wäre die Wirtschaftsförderung offen für das Regensburger Modell, versicherte Gwt-Regionalmanagerin Daniela Tewes. Auch Landrat Stefan Frey war angetan, er versprach: "Wir geben die Rahmenbedingungen."

Jetzt sind die Starnberger Kreativen am Zug, sich zusammenzufinden. "Wir sind nicht organisiert", gab Helwig zu. Oft würden Künstler als Bittsteller behandelt und arbeiteten für einen Hungerlohn, so Dorschner. Dabei sei die Kultur- und Kreativwirtschaft imagebildend für den Landkreis und ein unterschätzter Wirtschaftsfaktor. Als Beispiel nannte Landrat Frey das Fünfseen-Filmfestival: "Es zieht Menschen an, die dann ihr Geld bei uns lassen."

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SZ vom 16.09.2021
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