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Carmen Wegge (links) mit Ferda Atamann im Gewölbe des Tutzinger Schlosses beim Austausch über Diskriminierung.
Carmen Wegge (links) mit Ferda Atamann im Gewölbe des Tutzinger Schlosses beim Austausch über Diskriminierung. (Foto: Georgine Treybal)

Antidiskriminierungsbeauftragte Ferda Atamann will wissen, welche Benachteiligungen Menschen im Landkreis Starnberg erleben – und kündigt mögliche Verbesserungen an.

Von Carolin Fries, Tutzing

Sie durften nicht ministrieren, mussten in den Handarbeits- statt in den Werkunterricht, durften keine Nachtschichten in der Fabrik machen und bei der Berufsberatung empfahl man ihnen, Krankenschwester oder Kindergärtnerin zu werden: Frauen aus Politik, Wirtschaft und zivilgesellschaftlichen Organisationen haben Ferda Atamann ganz offen von ihren Diskriminierungserfahrungen berichtet. Und die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung im dunklen Hosenanzug über der lachsfarbenen Seidenbluse nickte und nickte und lächelte, als wollte sie sagen: Ja, das ist mir vertraut. So war das Deutschland. Aber auch: So ist das in Deutschland auch 2025 noch. Trotz Gleichbehandlungsgesetz, Entgelttransparenzgesetz, Antidiskriminierungsstelle, „MeToo“-Bewegung und diverser Initiativen.

Denn die Erzählungen datierten nicht ausschließlich aus vergangenen Jahrzehnten. Frauen erzählten, Männer ließen sie bei Meetings nicht aussprechen, sie bekämen in vergleichbaren Positionen mit männlichen Kollegen weniger Gehalt oder ihnen würde als potenziell gebärfähige Frau beim Bewerbungsgespräch durch die Blume mitgeteilt, dass der Job mit Familie nicht vereinbar sei. Letzteres erlebte Carmen Wegge (SPD), die seit dreieinhalb Jahren die Landkreise Starnberg, Landsberg am Lech und die Stadt Germering im Bundestag vertritt, als sie sich nach dem Studium bei einer Anwaltskanzlei beworben hatte. Sie hatte zum Kamingespräch „für starke Frauen“ einen überschaubaren Kreis aktiver und einflussreicher Frauen aus dem Landkreis geladen – darunter unter anderem Tutzings vormalige Bürgermeisterin Marlene Greinwald, Claudia Steinke vom ökumenischen Unterstützerkreis, Martina Rusch und Gosia Hannemann vom Kinderschutzbund, Sabine Appelhagen vom Verein „Frauen in die Politik“ oder Uli Spindler von der katholischen Frauen-Initiative „Maria 2.0“.

Ob Ferda Atamann und ihre sechs Mitarbeiter in Berlin, die jedes Jahr etwa 11 000 Fälle gemeldet bekommen, diesen Frauen hätte helfen können oder akut helfen kann? Die ernüchternde Antwort des Abends lautete: eher nicht. Denn Entschädigungsansprüche sowie das Unterlassen der Benachteiligung müssen innerhalb von zwei Monaten nach dem diskriminierenden Ereignis geltend gemacht werden – was von den Frauen als „Diskriminierung per Gesetz“ beklagt wurde. Denn meistens brauche es länger, um Vorkommnisse verarbeiten und einordnen zu können, wie Vertreterinnen von Beratungsstellen berichteten. Und es brauche den Mut, sich Hilfe zu holen, sowie Geld und einen langen Atem, um gegebenenfalls vor Gericht zu klagen. Als einen der prominentesten erfolgreichen Fälle schilderte Atamann die Klage der ZDF-Reporterin Birte Meier, der das gleiche Entgelt wie ihren männlichen Kollegen versagt worden war. Ihr Fazit nach zweieinhalb Jahren als Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung lautet: „Die Fortschritte sind groß. Doch Diskriminierung findet weiter statt und das nicht zu knapp.“

Atamann und Carmen Wegge setzen sich darum für eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) ein, die mit dem vorzeitigen Regierungsende nicht mehr umgesetzt werden konnte. Ihr Ziel ist unter anderem eine Anhebung der Geltendmachungsfrist sowie eine Erweiterung der Diskriminierungskategorien und -formen. Denn die Bereiche von Diskriminierung, auch das wurde in der Tutzinger Frauenrunde deutlich, sind vielfältig. Warum werden Menschen, die sich kein modernes Smartphone leisten wollen oder können, ausgeschlossen von diversen Angeboten und Vergünstigungen, die es nur bei Online-Käufen oder mit Apps gibt – und warum springen öffentliche Verkehrsanbieter auf diesen Zug auf, sodass Ticketkäufe ohne mobile Geräte unmöglich werden? Wie kann es sein, dass Künstliche Intelligenz Personen, die ein gewisses Alter überschritten haben, Banken und Kreditinstituten grundsätzlich nicht als kreditwürdig empfehlen? Und wer kümmert sich darum, wenn man im Internet rassistisch beschimpft wird? Laut einer repräsentativen Umfrage der Bundes-Antidiskriminierungsstelle hat jede dritte Person in Deutschland Diskriminierung erlebt.

Zum Kamingespräch kamen geladene Frauen aus Politik, Wirtschaft und sozialen Verbänden.
Zum Kamingespräch kamen geladene Frauen aus Politik, Wirtschaft und sozialen Verbänden. (Foto: Georgine Treybal)

Betroffen sind freilich immer wieder auch Menschen mit Behinderung, weshalb sich Wegge und Atamann in Starnberg auch mit der Arbeitsgemeinschaft Inklusionsbeirat zur Barrierefreiheit im ländlichen Raum austauschten. Dabei wurde deutlich, dass eingeschränkte Menschen Diskriminierung im Bildungssystem sowie im Berufsleben erfahren – „oder einfach, wenn sie von A nach B kommen wollen“, wie Wegge erzählte. „Wir alle sind gefragt, aus dem sehr segregativen System endlich Inklusion werden zu lassen“, sagte die Bundestagsabgeordnete. Viele Menschen würden zwar ihre Rechte kennen, schreckten aber vor Rechtsanwalts- und Gerichtskosten zurück. Darum sehe die Gesetzesreform auch ein Verbandsklagerecht für Vereine und Organisationen vor.

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