Auf dem Podium geht es um Europa, den Krieg in der Ukraine und die Währungspolitik der Europäischen Zentralbank. Vor der Bühne sitzen rund 100 Schüler des Gymnasiums Tutzing in langen Stuhlreihen. Manche sind in ihr Handy versunken. Andere lehnen mit geschlossenen Augen an der Schultern des Sitznachbarn. Die Rettung der EU? Trotz der anstehenden Europawahl scheint diese Frage weit entfernt vom Schulalltag.
Dabei dürfen die Jugendlichen dieses Jahr erstmals mit über die Zusammensetzung des EU-Parlaments entscheiden. Denn das Wahlalter wurde auf 16 Jahre gesenkt. An einem Donnerstagvormittag im Mai hat ihre Schule gemeinsam mit dem Tutzinger Jugendbeirat eine Informationsveranstaltung für die Erstwähler organisiert. Als Redner ist Raymond Saller eingeladen. Er ist Experte für Europa bei der Landeshauptstadt München und soll den Anwesenden alles Wichtige zur Europawahl vermitteln. Aber interessieren sich die jungen Menschen überhaupt für Europa?
„Europa ist in Gefahr“, sagt Paul Friedrich vom Tutzinger Jugendbeirat. „Mit der heutigen Veranstaltung möchten wir klarmachen, warum Europa wichtig ist.“ Am Tutzinger Gymnasium versucht man schon länger, die Jugendlichen für Europa zu begeistern.
So konnten die Schüler in den vergangenen zwei Jahren an einem außergewöhnlichen Projekt teilnehmen: Gemeinsam mit fünf anderen Schulen aus Spanien, Norwegen, Rumänien, Italien und Polen erarbeiteten sie Möglichkeiten, die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen in die Praxis umzusetzen. Sie organisierten etwa eine nachhaltige Einkaufstour in München oder besuchten ein Wasserkraftwerk in Norwegen. Das Interesse an dem Europaprojekt sei so groß gewesen, dass die Teilnehmer erst einen Bewerbungsprozess durchlaufen mussten, erzählt Lehrerin Birgit Ricks, die den Bildungsaustausch mitorganisiert hat.
Diese Europa-Euphorie der Jugend ist keine Seltenheit, wie Zahlen des Europäischen Parlaments belegen. Rund 68 Prozent aller Personen zwischen 16 und 30 Jahren seien der EU gegenüber positiv eingestellt, heißt es in einer 2021 erschienenen Jugendbefragung. Diese positive Grundeinstellung ist auch in Tutzing allgegenwärtig. Gabriela Rodriguez, Schülerin der 9. Klasse, erzählt: „Der jungen Generation ist die Verbundenheit in Europa sehr wichtig.“ Daran trägt auch der Austausch mit anderen jungen Europäern einen Anteil. Helena Santl aus der 11. Klasse berichtet, dass sie durch das mehrjährige Projekt am Tutzinger Gymnasium Europa „mehr als Eins sehen“ könne.
Ein Blick in die Zahlen zeigt aber auch: Nur 17 Prozent der Jugend fühlt sich im Europäischen Parlament gut repräsentiert. Zu diesem Ergebnis kommt die Studie „Junges Europa“ der TUI-Stiftung nach der Befragung von knapp 5900 Jugendlichen in sechs europäischen Ländern. Zudem haben 68 Prozent aller jungen Erwachsenen das Gefühl, wichtige Entscheidungen und Gesetze der EU würden unabhängig ihrer Interessen getroffen und verabschiedet.
Manche der Tutzinger Schüler haben bis zum Vortrag gar nicht mitbekommen, dass sie bereits wählen dürfen. Ist es Frust, Desinteresse - oder schlicht Überforderung?
Ganz so einfach ist es nicht. Denn während Initiativen wie „Vote 16“ mit breiter Unterstützung von Zivilgesellschaft und Parteien für eine Absenkung des Wahlalters kämpfen, sind sich die Jugendlichen in Tutzing bei dieser Frage nicht so sicher. Mit 16 Jahren sei man zwar nicht zu jung zum Wählen, sagt Helena Santl. Aber: „Die Hälfte weiß wirklich gar nichts über Politik.“ Zwar sei es begrüßenswert, über die eigene Zukunft mitbestimmen zu können, ergänzt Julian Raab. Doch mit zunehmendem Alter „stärkt man die eigene Meinung und kann seine Wahlentscheidung besser abwägen“. Am Ende kommen die beiden Erstwähler überein, dass es „total legitim“ sei, erst mit der Volljährigkeit wählen zu dürfen.
Die Absenkung des Wahlalters für die Europawahl macht sich an ihrer Schule bemerkbar. „Da wir nun mit 16 wählen dürfen, beschäftigen wir uns mehr mit Politik“, erklärt Santl. Sie wisse bislang allerdings nicht, wen sie wählen will. Die Veranstaltung in der Aula des Tutzinger Gymnasiums zeigt: Damit ist sie nicht allein. Paul Friedrich hat da mal eine Frage an die Schüler: Wer darf bei der anstehenden Europawahl wählen? Da melden sich fast alle. Und wer weiß schon, wen er wählen wird? Da geht nur noch eine Handvoll Hände nach oben.
Liegt das an mangelnder politischer Bildung? Die „European Parliament Youth Survey“ zeigt jedenfalls, dass aus Bildungsgesichtspunkten noch Luft nach oben ist. Rund 55 Prozent der gut 18 000 Befragten haben demnach das Gefühl, wenig bis gar nichts über die EU zu wissen. Kein Wunder, all die Richtlinien, Verordnungen und Durchführungsrechtsakte durchblicken ja auch die meisten Erwachsenen nicht. Europaexperte Saller hat angesichts dessen einen praktischen Tipp für alle jungen Wähler, um bei der Abstimmung den Durchblick zu behalten: „Beantragt die Briefwahlunterlagen. So könnt ihr euch alle Parteien und ihre politischen Positionen in Ruhe anschauen.“
Von den rund 400 Millionen zur Wahl aufgerufenen EU-Bürgern machen am Wahltag trotzdem nur wenige ein Kreuz. Die Wahlbeteiligung für das Europaparlament erreicht in der Regel keine 50 Prozent. Zwar rechnen die Ökonomen von Eupinions, einem Projekt der Bertelsmann Stiftung, dieses Jahr mit einer Beteiligung von rund 60 Prozent. Ein Vergleich mit den Bundes- und Landtagswahlen zeigt jedoch: Viel ist das nicht. Dort werden nämlich regelmäßig Werte von 70 Prozent und mehr erreicht.
Eine Rolle könnte dabei auch spielen, dass die Errungenschaften der EU für viele schwer greifbar sind. Überholte Klischees sind teils noch weitverbreitet. Etwa, die EU definiere nur die maximale Krümmung einer Banane oder den Durchmesser einer Pizza.
So bleibt es auch am Gymnasium Tutzing erst mal still auf die Frage, welche Vorteile die Europäische Union für die Jugendlichen bietet. Schließlich meldet sich Gabriela Rodriguez zu Wort: „Der größte Vorteil von Europa für uns ist, dass wir ungehemmt reisen können.“ Andere Errungenschaften der EU, wie der Euro als gemeinsame Währung, Freizügigkeit für Studium und Arbeit, Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit kommen an diesem Vormittag nicht zur Sprache. Lediglich Schulleiter Andreas Thalmaier ergänzt, dass die EU seit über 70 Jahren Frieden in Europa garantiere.
Dieser Frieden ist für viele Jugendliche zur Selbstverständlichkeit geworden. Für den Erhalt eines friedlichen Europas haben sie einen eigenen und einfachen Weg gefunden: Freundschaften schließen. Die Schüler waren bei ihren Reisen in Gastfamilien untergebracht. Nach einer Woche bei den Gastgebern in fremder Umgebung habe es sich angefühlt, als ob man sich schon ewig kennen würde, erzählt die Neuntklässlerin Chiara Matthies. Die entstandenen Freundschaften halten bis heute – über alle Ländergrenzen hinweg.
Um solche Freundschaften zu fördern, hat die Europäische Union ein Programm für Zusammenarbeit im Bildungsbereich ins Leben gerufen: Erasmus+. Insgesamt stellen die Mitgliedsstaaten für Bildung, Jugend und Sport zwischen 2021 und 2027 ein Gesamtbudget in Höhe von rund 26 Milliarden Euro zur Verfügung. Auch die Auslandsaufenthalte der Tutzinger Schülerschaft wurden aus diesem Topf bezuschusst.
Nach zwei Schulstunden neigt sich die Informationsveranstaltung im Gymnasium dem Ende entgegen. Schulleiter Thalmaier appelliert: „Seid kritisch, wählt demokratisch.“ Europaexperte Saller ergänzt: „Eine Herrschaft der alten, grauen Männer sollte sich nicht etablieren.“ Die Aufmerksamkeit aller haben sie damit zwar nicht gewonnen. Doch hört man sich unter den Schülern um, signalisieren die meisten von ihnen, dass sie sehr wohl ihr Kreuzchen machen wollen - zum ersten Mal überhaupt.