Klimakrise:Zur Sonne, zur Freiheit

Klimakrise: Der Grünen-Gemeinderat Bernd Pfitzner (links) und Barbara Ropp von der Energiegenossenschaft Fünfseenland - hier bei ihrem Impulsvortrag - wollen die Energiewende in Tutzing voranbringen.

Der Grünen-Gemeinderat Bernd Pfitzner (links) und Barbara Ropp von der Energiegenossenschaft Fünfseenland - hier bei ihrem Impulsvortrag - wollen die Energiewende in Tutzing voranbringen.

(Foto: Georgine Treybal)

Tutzing drückt auf die Tube beim Thema Energiewende. Doch kann man sich auch in einer Wohnung selbst mit Solarenergie vom Dach versorgen? Ein Vortrag zeigt: nicht so einfach, aber durchaus möglich.

Von Viktoria Spinrad, Tutzing

Nach zwei Stunden geballter Information über Balkonkraftwerke, Summenzähler und Amortisationsberechnungen steht Corinna Popowytsch mit ihrem Mann und zwei Nachbarn beisammen im Tutzinger Sitzungssaal. Sie wissen, die Energiewende hängt auch an Bürgern wie ihnen: Wohnungsbewohner. Vier Häuser mit jeweils zehn Parteien, 54 sind es insgesamt. "Wäre das bei uns jetzt Mieterstrom oder Ergänzungsstrom?", fragt Popowytsch. Die anderen sind sich auch nicht ganz sicher, also lieber nochmal bei der Dozentin nachfragen.

Es ist aber auch eine Krux mit diesem Energiethema: Seit die Gaspreise durch die Decke schießen, ist die Nachfrage so hoch wie das Thema komplex. Marktstammdatenregister, Zweirichtungszähler, Überschusseinspeisung - alles Worte wie aus einer Fachanleitung. Etwas Licht ins Dunkel soll ein Vortrag örtlicher Klima-Pioniere im Tutzinger Rathaus bringen. Es geht um die Frage, wie Solarstrom auch in eine Etagenwohnung kommt. Und darum, wie es eine 10 000-Einwohner-Gemeinde schaffen kann, ihren Beitrag zur Klimawende zu leisten.

Tutzing will bis zum Jahr 2035 klimaneutral werden

Der Vortrag ist nur ein kleiner Baustein zu einer großen Vision im Ort. Bis 2035 soll Tutzing klimaneutral werden - mithilfe eines Bürgerbegehrens für einen Klimaaktionsplan, eines eigenen Nahwärmekraftwerks, eines Solarparks - und vielleicht auch einer eigenen Energiegenossenschaft. So ist das erklärte Ziel der Bürgerbewegung "Tutzing klimaneutral 2035", die vergangenes Jahr von den Tutzingern Marco Lorenz und Uta Waldau ins Leben gerufen wurde. Als Vorbilder gelten die Nachbargemeinde Berg mit ihren Windrädern, vor allem aber das 2600-Einwohner-Dorf Wildpoldsried im Allgäu: Hier hat man es geschafft, mit Windrädern, Solarzellen auf den Dächern und einer Biogasanlage autark zu werden. Ein Modell auch für Tutzing?

Klimakrise: Seit 2015 stehen in Berg vier Windräder. Mit ihnen versorgt sich die Gemeinde zu 100 Prozent selber mit Strom.

Seit 2015 stehen in Berg vier Windräder. Mit ihnen versorgt sich die Gemeinde zu 100 Prozent selber mit Strom.

(Foto: Franz Xaver Fuchs)
Klimakrise: Das schwäbischen Wildpoldsried gilt als Dorf der Strompioniere.

Das schwäbischen Wildpoldsried gilt als Dorf der Strompioniere.

(Foto: Karl-Josef Hildenbrand/dpa)

Im Sitzungssaal klickt Barbara Ropp von der Energiegenossenschaft Fünfseenland eine Präsentation weiter. Sie ist eine Klimaberaterin, beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Thema. BWL, Unternehmenstransformation, Wirtschaftsmediation, Umweltmanagement. In Gilching hat sie ein Quartierskonzept für die erneuerbare Versorgung initiiert. Nun geht es darum, in Tutzing in eine Lücke zu stoßen. 100 sogenannte Balkonkraftwerke, also Solarmodule für die heimische Empore, wurden hier zuletzt bestellt. Auch auf manchen Dächern sind Solarpaneele zu sehen. Doch auf die 10 000 Einwohner kommen 4544 Wohnungen. Was macht man, wenn man als Wohnungsbewohner gern auch Solarstrom vom Dach hätte?

Klimakrise: Gerade in der Energiekrise lockt das Thema Solarstrom die Menschen an. Bei einer Veranstaltung im vergangenen Jahr war es so voll, dass manche wieder nach Hause gehen mussten.

Gerade in der Energiekrise lockt das Thema Solarstrom die Menschen an. Bei einer Veranstaltung im vergangenen Jahr war es so voll, dass manche wieder nach Hause gehen mussten.

(Foto: Georgine Treybal)

In der Präsentation tauchen bunte Deutschlandkarten auf. Es sind Hiobsbotschaften für die bayerische Bevölkerung, die aufrütteln sollen. Ropp hebt die Hand: der Strom ist im Norden günstig, im Süden teuer. Standortnachteil Freistaat. Und wohin geht die Preispolitik? Unklar. "Eigene Stromversorgung sichert auch zukünftig einen günstigen Strompreis", heißt es in der Präsentation. Ropp sagt: "Jeder hilft, um die Situation ein Stück weit zu entspannen." Corinna Popowytsch und ihre Mitstreiter machen sich derweil Notizen.

Sie haben kein schlechtes Timing. Seit diesem Jahr hat die Ampel-Koalition in Berlin die Bürokratie für Solarpaneele etwas eingedämmt. Mehrwertsteuer, EEG-Umlage, Drosselungspflicht, Steuer auf die Einspeisevergütung ins öffentliche Netz: alles abgeschafft. Nun geht es um die Umsetzung im Kleinen, und die ist der schwierigere Part. Eine Abstimmung im Sitzungssaal zeigt: Etwa ein Drittel der Interessierten im Rathaus wohnt in Häusern mit mehr als zehn Wohnungen, der Großteil in kleineren Mehrparteienhäusern. Weil sich der eigene Strom mehr lohnt, je mehr Menschen sich beteiligen, greifen hier verschiedene Konzepte für die kollektive Energiewende auf dem gemeinsamen Dach.

Der kollektive Strom vom Dach muss zehn Prozent günstiger sein als der vom Markt

Für größere Gruppen lautet das Zauberwort: Mieterstrom. Vorne am Sprechpult steht jetzt Bernd Pfitzner. Der Diplom-Wirtschaftsmathematiker, Kreisrat und Fraktionsvorsitzender im Gemeinderat ist einer derjenigen, denen hier vieles viel zu langsam geht mit der Energiewende. "Je höher der Nutzen, desto höher die Komplexität", sagt er, "aber das soll uns nicht abschrecken." Er deutet auf ein Modell der Bundesnetzagentur mit Pfeilen und vier verschiedenen Personen.

Grob funktioniert dieses Konzept, bei dem eine Gruppe Bewohner ihren eigenen Strom generiert, so: Diejenigen, die mitmachen wollen, verlassen ihren bisherigen Anbieter. Der Vermieter, die Genossenschaft oder auch ein Dritter wird zum Betreiber einer Anlage auf dem Dach; quasi ein eigenes, kleines Energieversorgungsunternehmen. Der Strom fließt direkt an die Bewohner. Und der Verbraucherpreis dafür liegt mindestens zehn Prozent unter dem Tarif; so ist es gesetzlich geregelt. "Damit es sich für alle auch wirklich lohnt", sagt Pfitzner.

Klimakrise: Solarmodule für ein sogenanntes Balkonkraftwerk hängen an einem Balkon. In Lenggries aber soll zunächst die Ortsgestaltungssatzung überarbeitet werden. Auch im neuen Entwurf sollen Balkonkraftwerke jedoch nicht pauschal erlaubt werden.

Solarmodule für ein sogenanntes Balkonkraftwerk hängen an einem Balkon. In Lenggries aber soll zunächst die Ortsgestaltungssatzung überarbeitet werden. Auch im neuen Entwurf sollen Balkonkraftwerke jedoch nicht pauschal erlaubt werden.

(Foto: Stefan Sauer/dpa)

Wenn es bewölkt ist und die Sonneneinstrahlung nicht reicht, muss Strom aus dem Netz zugekauft werden. Sollte Strom überbleiben, wird dieser ins öffentliche Netz eingespeist. Die Vergütung dafür ist in diesem Jahr zwar gestiegen, bleibt mit 7,1 und 8,2 Cent pro Kilowattstunde allerdings auf einem relativ niedrigen Niveau. "Wissen wir alle", sagt Pfitzner. Auch er ist seit Jahrzehnten am Energiewende-Thema dran. Aus dem kirchlichen Arbeitskreis an der St. Josephskirche heraus gründete er 2008 die Tutzinger Ortsgruppe des Energiewendevereins.

Es folgte die Energiegenossenschaft Fünfseenland und die Tutzinger Klimaneutralitäts-Gruppe. Der Fisch im Logo erinnert bis heute an die kirchlichen Wurzeln der Tutzinger Bürgerbewegung. Viele Gruppen, zäher Fortschritt. Bei konkreten Ideen wird es schnell dünn. Als er mal den Vorschlag brachte, auf jedes Dach verpflichtend eine Photovoltaik-Anlage zu installieren, stieß er schnell auf Widerstand. Und um Tutzing als "Fairtrade-Gemeinde" zu etablieren, brauchte es zwei Anläufe.

Da wirkt die Energiekrise wie ein verquerer Segen für die Klimawende: 45 aktive Mitglieder zählt die Tutzinger Klimabewegung mittlerweile, 500 Interessierte haben sich für den Newsletter eingetragen; an der Spitze Bürgermeisterin Marlene Greinwald (FW). Erst kürzlich ließ sie sich mit ihrem eigenen privaten Balkonkraftwerk fotografieren. Die Botschaft: eine Rathauschefin als Zugpferd für die Klimaneutralität am Ort. Sie weiß ja, dass die einzelnen Bürger es am Ende richten müssen. "Hier muss das gleiche Engagement kommen", appelliert sie am Vortragsabend an das Publikum. Doch Bremser wie Lieferengpässe und Fachkräftemangel machen auch vor ihr nicht Halt. Wie viele im Ort wartet sie noch immer auf die Installation ihres Balkonkraftwerks.

Der Landkreis hinkt bei regenerativer Energie hinterher

Der Landkreis Starnberg mag auf dem Papier überdurchschnittlich reich sein - bei regenerativer Energie hinkt er hinterher. Zuletzt waren nur elf Prozent der Energie erneuerbar, bayernweit sind es 48 Prozent. Die Kluft liegt nicht zuletzt an dem besonders teuren Grund und an der Demografie. Die Bewohner sind überdurchschnittlich alt. Der durchschnittliche Starnberger ist 45,6 Jahre alt und damit knapp dreieinhalb Jahre älter als in der Stadt München. Nicht alle Leute seien da motiviert, noch energetisch zu sanieren, sagt Pfitzner. Zumal es in Bayern im Gegensatz zu anderen Bundesländern noch keine Solarpflicht für Neubauten gebe. Was sich aber ändern könnte: Der Koalitionsvertrag in Berlin sieht eine bundesweite Pflicht zur Installation von Photovoltaikanlagen auf Neubauten ab 2025 vor.

Im Tutzinger Sitzungssaal spricht Barbara Ropp über Lösungen für kleinere Hausgemeinschaften mit bis zu zehn Parteien. "Das ist schon komplex, jetzt wird's richtig spannend", sagt sie. "Ergänzungsstrom", steht auf der Folie: Es ist das Gegenteil von Mieterstrom. Sagt man sich hier weitestgehend vom Markt los, geht es bei kleineren Gruppen darum, sich soweit es geht mithilfe der eigenen Energie loszusagen. Die Mieter bleiben also bei ihrem Energieversorger. Es folgt eine Aufzählung einiger entscheidender Paragrafen. "Es sind wirklich viele, viele Gesetze", sagt Ropp.

Mieterstrom? Ergänzungsstrom? Corinna Popowytsch und ihre Mitstreiter wollen sich jetzt erst einmal beraten lassen. Sollten sie sich mit ihrer Hausgemeinschaft auf das Wagnis "Solarstrom" einlassen, wären sie Pioniere in Tutzing.

Beim Solarkataster des Landratsamtes kann sich jeder darüber informieren, ob sich eine Solaranlage daheim lohnt. Finanzierung und Betrieb der PV-Anlage übernimmt unter anderem auch die Energiegenossenschaft Fünfseenland. Sie berät, macht Potenzialanalysen und hilft bei der Inbetriebnahme. Kontakt: Barbara Ropp, strom-teilen@eg-5-seen.de

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