Tutzing:Ansturm auf die Weide

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Endlich ist - zumindest in den meisten Bio-Betrieben - für die Kühe die Zeit im Stall vorbei. Es geht wieder raus

Von Sylvia Böhm-Haimerl, Tutzing

Schon von weitem ist ein aufgeregtes Muhen der Kühe im Stall zu hören. Es klingt fast so, als ob die Tiere wüssten, dass heute ein besonderer Tag für sie ist. Unter dem Motto "Wir lassen die Kuh raus" dürfen die 23 Milchkühe der Tutzinger Biobauern Marita und Josef Pulfer nach langen Wintermonaten wieder auf die Weide. Und als die Landwirte nach dem Ruf "alles bereit" die Stalltüre öffnen, gibt es kein Halten mehr für die Kühe.

Die erste Kuh geht voraus mit erhobenem Schwanz, dann stoppt sie und sieht sich um. Direkt neben dem Weidezaun blöken Schafe. Offenbar will die Kuh ihre neuen Nachbarn begutachten. Die anderen Kühe sind nicht so vorsichtig. Sie stürmen auf die Weide, hüpfen ein paar Mal auf allen Vieren in die Höhe und fressen anschließend genüsslich das erste zarte Grün. Eine Kuh bleibt stehen und scharrt mit den Hufen, um sogleich auf ihre Nachbarin loszugehen. Ihre Hörner verkeilen sich, die stärkere Kuh schiebt die andere weg und der Kampf ist beendet. "Die Rangkämpfe beginnen jedes Jahr neu", erklärt Joseph Pulfer, der 26-jährige Sohn. Normalerweise passiere aber nichts. Die stärkste Kuh schiebt alle schwächeren weg und nach zwei Stunden ist alles zu Ende, so die Erfahrung des Agraringenieurs, der gerade seinen Master macht. Er könnte sich ein Leben ohne Tiere gar nicht vorstellen, auch wenn die Arbeit schon um 5 Uhr morgens beginnt und erst am Abend endet. Schon früh seien er und sein Bruder Martin in die Arbeit am Hof eingebunden worden. "Von klein auf waren es unsere Tiere und unser Grund", sagt er mit Blick auf die Kühe, Schafe, Hühner und Enten auf dem Hof. Mutter Marita ist stolz auf ihre Söhne. "Wir haben wirklich Glück, sonst könnten wir das nicht machen", sagt die 58-Jährige. Der Hof ist ein Familienbetrieb. Müssten fremde Mitarbeiter beschäftigt und Löhne bezahlt werden, könnten die Pulfers ihren Bauernhof nicht wirtschaftlich betreiben. Marita und Josef Pulfer sind Quereinsteiger. Sie sind beide studierte Geographen und haben früher auf dem elterlichen Hof mitgeholfen.

Kräftemessen auf der Wiese: Die Rangkämpfe unter den Kühen, wie hier auf dem Biobetrieb der Familie Pulfer in Tutzing, sind meist harmlos. (Foto: Georgine Treybal)

Vor 16 Jahren haben sie die Landwirtschaft übernommen und seit 2009 sind sie anerkannte Biobauern. Der Pulfer-Hof ist übrigens der einzige Bauernhof in Tutzing, der noch Milchwirtschaft betreibt. Nachhaltige Landwirtschaft ist das Lebensprinzip der Pulfers. Die Kühe dürfen so natürlich wie möglich leben. Sie dürfen Hörner tragen und auch im Winter raus auf einen geschützten Innenhof. Da die Weide direkt neben der Hofstelle ist, kommen die Kühe jeden Tag pünktlich, um 17 Uhr, selbstständig von der Weide zurück und stellen sich am gewohnten Platz zum Melken an. "Es macht viel Arbeit, aber auch viel Freude", sagt Marita Pulfer.

Für Barbara Scheitz von der Andechser Molkerei ist es jedes Jahr ein besonderes Schauspiel, wenn die Kühe ihrer Vertragsbauern auf die Weide dürfen. Seit drei Jahren zahlt ihr Betrieb als einzige Molkerei Deutschlands einen Weidenzuschlag. Inzwischen praktizieren knapp 90 Prozent ihrer Bio-Kuhmilchbauern den Weidegang. In der konventionellen Landwirtschaft indes komme das kaum mehr vor, sagt sie. Scheitz, die seit rund 30 Jahren Bio-Milchprodukte herstellt, legt großen Wert auf den Beziehungskreislauf zwischen Landwirtschaft, Produktion und Verbraucher. "Der Verbraucher hat bewiesen, dass er die Entwicklung unterstützt", betont sie.

Ein besonderes Schauspiel ist der erste Austrieb für die Landwirtsfamilie Pulfer und für Barbara Scheitz (v. re.), Chefin der gleichnamigen Biomolkerei. (Foto: Georgine Treybal)

Auch wenn die Weidenhaltung mehr Arbeit macht, ist der Freisinger Biobauer und Agrarexperte Sepp Braun überzeugt davon, dass sie "ein Segen ist für das Vieh und die Bauern". Bei konventioneller Landwirtschaft sind große Maschinen erforderlich, um das Gras zu mähen. Dadurch wird der Boden stark verdichtet und das Wasser kann nicht mehr versickern. Durch das oftmalige Mähen nimmt zudem der Artenreichtum ab. Auf einer Bio-Weide wachsen 38 Grasarten, auf einer Bio-Wiese sogar 48, auf einer konventionellen indes nur maximal sieben. Die Weidekühe sind nachweislich gesünder und ihre Milch hat einen wesentlich höheren Anteil an Omega 3 und Omega 6 Fettsäuren. Man müsse die Landwirtschaft neu überdenken, fordert Braun. "Wir müssen alles tun, dass wir wieder Lebensmittel erzeugen, die den Namen auch verdienen."

© SZ vom 19.04.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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