Es war gegen drei Uhr morgens, als die Sirenen heulten. Luftalarm in Brody, Westukraine. Arnold Zimprich wachte auf und hörte etwas weiter entfernt eine Drohne fliegen – dann ging das Abwehrfeuer des ukrainischen Militärs los. „Erst da habe ich realisiert, dass es ein Angriff war“, sagt der Ehrenamtliche von der Osteuropahilfe der Landkreise Starnberg, Wolfratshausen und München. Er habe beobachtet, wie die Nachbarn reagieren, und sei in den Luftschutzbunker gegangen. Zum Glück hatte er es nicht weit. Der Schutzraum lag gleich unter dem Haus, in das er sich über eine Online-Plattform eingemietet hatte. Ziel der nächtlichen Attacke war der Militärflughafen, der wenige Kilometer außerhalb von Brody entfernt liegt.
Die Fahrten nach Brody, Pidkamin und andere Orte in der Westukraine sind für Mitglieder und Partner der Osteuropahilfe lebensgefährlich. Russland habe die Angriffe jetzt auch im Westen des Landes intensiviert, erzählt Zimprich. „Und sie betreffen nicht mehr nur die Infrastruktur.“ Nicht mehr nur die Stromversorgung. Nicht mehr nur Militäranlagen. Da könne man leicht „zur falschen Zeit am falschen Ort“ sein, sagt Frank Dopfner, Schatzmeister des Vereins. Als der russische Angriffskrieg vor dreieinhalb Jahren ausbrach, war er mit seiner Tochter von Brody auf dem Heimweg durch Lemberg gefahren. Dort kamen sie an einer Tankstelle und einer Reifenwerkstatt vorbei. Am nächsten Tag war sie zerstört.


Seit 1989 bringt die Osteuropahilfe, die vom 2014 gestorbenen Richard Dimbath gegründet wurde, immer wieder Hilfsgüter in die Westukraine. Nach Lemberg. Nach Pidkamin. Vor allem aber nach Brody, einer etwa 24 000 Einwohner großen Stadt, Geburtsort des Schriftstellers Joseph Roth. In den Neunziger- und Zweitausenderjahren ging es vor allem darum, die materielle Not in dem Land zu lindern, das vormals Teil der Sowjetunion war. Die Lieferungen reichten beispielsweise von Betten und Notstromaggregaten für Krankenhäuser über Brillen und Hörgeräte bis zu Kleidung und Alltagsartikeln. Mit den Jahren entwickelte sich daraus eine Freundschaft zwischen den Städten Brody und Wolfratshausen, zwischen den Gemeinden Schäftlarn und Pidkamin. Soziale Projekte entstanden in den ukrainischen Orten, etwa das Straßenkinderprojekt Oberih oder die Resozialisierungskommune für entlassene Strafgefangene.

Dann kam der Krieg. Mit ihm änderte sich viel. Die Lastwagen transportieren nun unter anderem ausgediente Fischernetze, zusammengebunden zu großen Rollen. „Die Ukrainer sind darauf gekommen, dass Drohnen, wenn man die Netze über die Straße spannt, Fahrzeuge darunter nicht mehr orten können“, sagt Dopfner. Für die Zivilbevölkerung, die ja von A nach B kommen müsse, sei dies wichtig, sagt Zimprich.
Eine Anfrage wegen 300 Tonnen gebrauchter Fischernetze, die aus Dänemark, Norwegen und Irland stammen, hatte die Osteuropahilfe von einer humanitären Organisation in Charkiw erhalten. Sie schaltete den Vorsitzenden Andrij Gromjak vom Partnerverein „Hilfe ohne Grenzen“ ein – und zahlte. 3200 Euro für eine Fuhre mit 22 Tonnen, insgesamt rund 44 000 Euro. Dabei lebt der gemeinnützige Verein ausschließlich von Spenden. „Wir haben viele Einzelspenden, wir hängen daran“, sagt Vorsitzende Maria Reitinger, ehemalige Zweite Bürgermeisterin von Schäftlarn. „Wenn sie nicht eingehen, dann ist es vorbei“, verdeutlicht Schatzmeister Dopfner.

Um die Finanzmittel und um die Organisation kümmern sich Maria Reitinger, ihr Mann Josef Reitinger und Frank Dopfner. Das Beladen von Lastwagen mit Rollstühlen, Rollatoren, Heizlüftern, Schulmöbeln, Infusionsständern oder Behandlungstischen aus ehemaligen Arztpraxen, die derzeit in der profanierten Kirche St. Benedikt lagern, ist in ihrem vorgerückten Alter ohnehin eher die Ausnahme. Ihre Aufgabe ist es vor allem, die Wunschlisten zu bearbeiten, Spendengelder einzusetzen und alle Ausgaben fürs Finanzamt penibel zu dokumentieren. Wenn es möglich ist, soll in der Ukraine eingekauft werden, um der Wirtschaft dort zu helfen.
Mit dem Fahrrad nach Polen
Außerdem haben sie eine Art Fischernetz über ihre humanitäre Arbeit gespannt: Sie arbeiten mit ukrainischen und polnischen Spediteuren zusammen, mit der ukrainischen Post, pflegen Kontakte zu deutschen Krankenhäusern, bayrischen Pflegeheimen oder auch zum Tierschutzverein in Gilching. „Wir haben unheimlich viele Kontakte“, sagt Dopfner. Und dann gibt es da noch Jörn Bertleff aus Dorfen. Dem Inhaber einer Firma für Baustellenheizungen scheint kein Weg in die Ukraine zu weit, keiner zu riskant zu sein. Auch jetzt im August war er wieder dort. „Er fährt oft, auch bis nach Charkiw, wo es wirklich lebensgefährlich ist“, so Dopfner.

Zimprich hat ein geländegängiges Auto nach Brody gebracht, mit dem Bürgermeister Anatolij Belej und einige Stadträte dann samt einem Kleintransporter weiter nach Saporischschja gefahren sind, um Netze zu liefern. Die Stimmung in der Westukraine sei eigentümlich, sagt der Königsdorfer. Auf dem Hauptplatz vor dem Rathaus in Brody stünden Stelen mit den Fotos und Namen der Gefallenen, um die Menschen herumgehen und trauern. Aber nur ein paar Schritte weiter befinde sich ein Spielplatz, auf dem kleine Kindern herumtobten. Um 9 Uhr morgens erklinge die ukrainische Nationalhymne aus Lautsprechern, das Leben stehe für wenige Minuten still, am Ende legten sich die Leute die Hand auf die Brust und riefen „Slava Ukraini“ (Ruhm der Ukraine). Aber in den Supermärkten laufe ganz normale Musik, von Krisenstimmung sei kaum etwas zu spüren. „Es ist nicht so, dass jeder ein Gesicht zieht“, berichtet Zimprich. In einer Tarnnetz-Flechterei habe es sich eine Frau aus der Ostukraine nicht nehmen lassen, ihren Geburtstag zu feiern. Mit Kuchen und Sekt. „Das Leben geht weiter.“
Für den Rückweg hat der Königsdorfer übrigens das Fahrrad genommen. Am Wegrand habe er viele Hunde gesehen, die ihm nachschauten, sagt er. 500 Kilometer hat er geschafft, bis nach Tarnau in Polen. Vom nahen Krakau aus fuhr er mit dem Zug zurück. Drei Tage durch Krieg und Hitze, „ich war ziemlich am Ende“. Außerdem wäre er fast nicht aus der Ukraine hinausgekommen. „Sie wollten mich nicht über die Grenze lassen.“ Der Grund: Es war ein „Border for cars“, an der Nummernschilder gescannt werden. Und Zimprichs Radl hatte nun mal keins.

