„Heuer habe ich mein erstes Deutsch-Abitur gemacht“: Der Satz wirkt aus dem Mund eines 65-jährigen promovierten Literaturwissenschaftlers ziemlich absurd. Tatsächlich war das gerade die zweite germanistische Reifeprüfung für Thomas Kraft. Die erste liegt nur fast ein halbes Jahrhundert zurück – damals nahm er die Rolle des Prüflings ein und nicht die eines Prüfer. Inzwischen war der Herrschinger unter anderem erster Programmleiter des Münchener Literaturhauses, 20 Jahre lang hat er die Veranstaltungen zur jährlichen Bücherschau am Gasteig kuratiert. In seinem Heimatort begründete er den Kulturverein mit. Genau 40 Bücher hat Kraft als Autor oder Herausgeber verfasst. Doch damit soll nun Schluss sein. Stattdessen hat er kurz vor dem Rentenalter einen neuen Beruf ergriffen: Seit der Pandemie unterrichtet er an einem Privatgymnasium Deutsch und Geschichte.
Ganz fremd ist ihm dieses Metier freilich nicht. Er sei ja schon immer im Dienste der Leseförderung und Kulturvermittlung unterwegs gewesen, sagt der spätberufene Pädagoge. Kraft hat im Buchhandel gearbeitet, er war Literaturkritiker, Herausgeber, Schriftsteller und Verlagsleiter. „Ich habe auf allen möglichen Seiten des Literaturbetriebs gekämpft“, sagt er. Auch aus diesen Erfahrungen heraus hat er nun beschlossen, keine weiteren Bücher zu schreiben: Autoren bräuchten zwar den ganzen Input, „werden aber im gesamten Betrieb am allerschlechtesten bezahlt.“ Bei einem Verdienst von einem Euro pro Buch sieht Kraft für die Textschöpfer eine „Schieflage in der ökonomischen Bilanz zwischen Engagement und Ertrag“.
Drei Romane, ein Band mit Erzählungen und drei mit Gedichten umfasst bislang Krafts belletristisches Werk. Dazu kommen Bio- oder Monografien über Literaten, Kulturführer für Franken und Popmusik-Anthologien. Erfolgreich war keines seiner Bücher, sagt der Autor, zumindest nicht „im Sinne von Geld“ – obwohl sie teilweise bei bekannten Verlagen wie Langen Müller, dtv oder Maro erschienen sind. Eine große finanzielle Enttäuschung für ihn war zuletzt „The Last DJ – wie die Musik ins Radio kam“. Mit dem 500-seitigen Buch, das im Herbst 2022 beim unabhängigen Fürther Verlag „Starfruit Publications“ erschien, hatte er sich viel Arbeit gemacht und 40 prominente Protagonisten der 1960er bis 1990er Jahre wie Alan Banks oder Fritz Egner interviewt. Trotz einiger positiver Kritiken fand der Band nur wenige Käufer – Kraft hätte sich von Rundfunksendern mehr Unterstützung erhofft.
Pop- und Rockmusik haben ihn schon seit der Kindheit begeistert. Nach seiner ersten LP befragt, antwortet er ohne Zögern „Johnny Winter and Live“. Selbst an die ersten Singles erinnert er sich noch genau, alle drei standen 1970 weit oben in den Hitparaden. Weil er selbst nicht singen und kein Instrument spielen konnte, stand der Musikfan am Plattenteller und legte bei Klassenpartys auf. Seit zehn Jahren präsentiert Kraft gelegentlich eigene und fremde Texte zu Musik von den Doors, Bob Dylan oder Neil Young. Mit Gert Heidenreich als Sprecher, der Sängerin Laura Wachter und dem Gitarristen Steven Lichtenwimmer hat Kraft das Programm „I was your Man“ entwickelt, eine Hommage an Leonard Cohen. Inzwischen fühle er sich auf der Bühne wohl, sagt er, mit der Bücherschau habe er sich ans Rampenlicht gewöhnt.
Einmal selbst den Radio-DJ spielen: „Das könnte noch ein Lebenstraum sein“, räumt der 65-Jährige ein. Sachkunde ist bestimmt vorhanden: Unter anderem verfasste Kraft eine Cohen- Biografie und erzählt in einem Buch, wie sich Rockmusiker von Literatur inspirieren ließen. Für ein anderes stellte er 50 Lyriker der Gegenwart vor die Aufgabe, ihren jeweiligen Lieblings-Song in eigene Worte zu fassen. Und Kraft gab Anthologien wie „Beatstories“, „Rockstories“ und „Punkstories“ heraus.
Auch eines seiner letzten drei Bücher, die heuer noch erscheinen, dreht sich um populäre Musik: „Americana“ soll im Spiegel der Countrymusik die gegenwärtige Zerrissenheit der USA illustrieren. Für die kommentierte Diskografie dazu hat der Autor 500 Platten gehört. Zuvor kommen unter dem Titel „Dichter-Freunde“ noch literaturhistorische Betrachtungen über Autoren-Paarungen auf den Markt. Und im Herbst wird der München-Roman „Der nackte Wahnsinn“ publiziert.
Für Freunde und Weggefährten hat Kraft noch ein autobiografisches Buch als Privatdruck fertiggestellt: „Glühend gewidmet“ besteht vor allem aus einer Aufzählung bedeutender Kulturschaffender, denen der Autor begegnet ist. Stellvertretend seien hier die Nobelpreisträger Günter Grass, Wole Soyinka und Herta Müller genannt. Damit soll aber an dieser Stelle das Namedropping schon abgeschlossen werden, sonst bliebe kaum Platz für Thomas Krafts eigenes Schaffen.
1996 stieg er für drei Jahre in das Team des neu gegründeten Münchener Literaturhauses als Programmleiter ein, vom Jahr 2000 an übernahm er im Auftrag des Börsenvereins die Programmgestaltung der größten deutschen Buchausstellung im Gasteig. Neben Lehraufträgen gab er ein Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur heraus, von 2005 bis 2015 war er Vorsitzender des bayerischen Schriftstellerverbands.
Drei Jahre lang war er als Programmleiter beim Münchener Langen Müller Verlag angestellt, dann sattelte Kraft um, „wieder einmal nicht ganz freiwillig“: Seit 2013 führt er eine Veranstaltungsagentur für örtliche und regionale Literaturfestivals. „Das lief alles ganz prima – dann kam Corona und alles war tot“, sagt Kraft. Heute betreut er nur noch drei Veranstaltungsreihen in Fürstenfeldbruck, im Allgäu und in Nordschwaben. „Literatur ist ein Minderheitenprogramm und steht bei den Fördermitteln des Freistaats ganz hinten an“, stellt der Kulturmanager fest.
Dass kurz vor Beginn der Pandemie das Kultusministerium auf einer Homepage Germanisten als Deutschlehrer anwarb, sieht Kraft als späte Ironie des Schicksals an. Schließlich hatte er schon zu Beginn seines Germanistikstudiums eigentlich aufs Staatsexamen und gymnasiales Lehramt geschielt – aber 1978 waren die Aussichten für eine Anstellung gleich null. Angesichts dieser Perspektivlosigkeit in der Pädagogik belegte er an der Münchener Uni Theaterwissenschaften und Philosophie statt Linguistik und Mediävistik.
Kraft ist froh, vom einsamen Geschäft am Schreibtisch weg zu sein
Dabei war ihm schon damals klar, „dass ich mit Kindern und Jugendlichen ganz gut umgehen kann“. Kraft fühlt sich jetzt bestätigt: Die Arbeit als Lehrer am Gymnasium Eggenberg in Icking bereite ihm viel Freude – „auch wenn es manchmal anstrengend ist und zehrt“. Der persönliche Kontakt sei in der relativ kleinen Schulgemeinschaft eng und intensiv, für manche Zöglinge sei sie auch ein „ein bisschen Familienersatz“. Er unterrichtet mit uneingeschränkter staatlich geprüfter Lehrbefugnis und vollem Stundendeputat, an einer Privatschule gibt es keine Altersgrenze für den Ruhestand. Kraft ist froh, vom „einsamen Geschäft am Schreibtisch“ loszukommen und sich wieder mehr zu bewegen – selbst wenn dazu gehört, dass er von und zur Arbeitsstelle täglich 70 Kilometer zurücklegen muss. Seit er das Schreiben für sich abgeschlossen hat, bleibt nun nachmittags oder in den Ferien mehr Zeit für Sport, die Familie samt Hund und ehrenamtliches Engagement.
Schon bald, nachdem die Krafts 2005 das Einfamilienhaus an der Panoramastraße bezogen hatten, begannen sie sich in Herrsching für Kultur und Bildung einzusetzen. Thomas Kraft hat 2006 den örtlichen Kulturverein initiiert und mitbegründet. Er war bis 2007 dessen erster Vorsitzender und organisierte im Ort kleinere Literaturfestivals wie 2008 „Poesie am See“. Als der Verein 2014 von der Gemeinde mit der Nutzung des Kurparkschlösschens betreut wurde, gehörte der Literaturwissenschaftler dem Vorstand als Sprecher an. Unter Krafts Ägide finden im Scheuermann-Schlösschen vielgestaltige Lesungen statt. Zweimal, zuletzt 2019, organisierte Kraft das Kinderbuchfestival „Salto“ in Herrsching.
Als sich 2009 eine Elterninitiative im Ort formierte, hat Thomas Kraft die erste Demo für den Bau des Herrschinger Gymnasiums mit organisiert. Das bildungspolitische Engagement ging vor allem von seiner Frau aus, die auch promovierte Germanistin ist: Tanja Kodisch-Kraft hat sich erst im Förderverein und dann in der Ortspolitik für den Schulbau eingesetzt. Von 2011 bis 2015 führte sie den Herrschinger CSU-Ortsverband an, der sich danach im Streit über die Standortswahl für das Gymnasium fast gespalten hat.
Man kann es als Ironie des Schicksals sehen, dass die Krafts jetzt – da ihre Kinder 21, 17 und der Schulzeit entwachsen sind – jahrelang mit der Großbaustelle der Schule konfrontiert werden, die keine 200 Meter von ihrem Architektenhaus entfernt ist. Für Thomas Kraft aber schließt sich so nicht nur ein biografischer, sondern auch ein geografischer Kreis von Gymnasium zu Gymnasium, wenn er zur Arbeit pendelt.