Kandidaten für den Tassilo 2018:Piraten der Wohnzimmer

Gauting Tassilopreis, Ernst matthias Friedrich und Sebastian Hofmüller

Die Kinderkasse genügt: Der Eintritt zu den Hausbesetzungen ist frei, die Künstler bezahlen Ernst Matthias Friedrich (li.) und Sebastian Hofmüller aus dem Topf, in dem Spenden und Geld für Getränke zusammen kommen.

(Foto: Georgine Treybal)

Ernst Matthias Friedrich und sein Nachbar Sebastian Hofmüller haben vor knapp acht Jahren die Gautinger Hausbesetzungen mit Musik und Lesungen erfunden. Die Reihe ist ein Selbstläufer.

Von Blanche Mamer, Gauting

Man begegnet ihm oft in Gauting, meist ist er zu Fuß unterwegs, beim Einkaufen mit seinen beiden Jüngsten. Sebastian Hofmüller kennt sehr viele Menschen, und da er einem Plausch nur selten abgeneigt ist, braucht er oft länger als geplant - bis ihn seine Söhne daran erinnern, dass sie nicht mehr warten wollen. "Etliche unserer Termine sind im Gespräch auf der Straße entstanden oder angeleiert worden", sagt der Schauspieler, der zusammen mit seinem Kollegen und Nachbarn Ernst Matthias Friedrich vor knapp acht Jahren die "literarischen Hausbesetzungen" in der Gautinger Villenkolonie initiiert hat.

Gern erzählt er, wie das Projekt "Kunst in der Kolonie" beim Ratsch am Gartenzaun entwickelt wurde. "Du kommst zu mir und liest. Für die Gäste gibt es Wein. Dann lese ich bei dir." Termine sind schnell gefunden: Am 4. Juli 2010 ist Premiere mit Hofmüller und "Mumu" von Iwan S. Turgenjew in Friedrichs dunkel getäfeltem Wohnzimmer, das gerappelt voll ist. Zwei Wochen später ist Ernst Matthias Friedrich mit "Die Elementargeister" von Heinrich Heine bei Hofmüllers zu Gast; zusätzliche Stühle müssen organisiert werden. Ganz schnell sind andere Künstler dabei und andere Hausbesitzer, die den Hausbesetzern die Tür öffnen. Mehrmals im Jahr finden nun Lesungen und/oder kleine Konzerte verbunden mit Ausstellungen in alten und neuen Häusern statt. Die Veranstaltungsreihe hat inzwischen eine starke Eigendynamik entwickelt, die Grenzen des Villenquartiers sind längst gesprengt, die Ortsmitte und die Ortsteile erreicht. Viele Schauspieler, Autoren und Musiker aus dem Würmtal haben die privaten Wohnzimmer erobert. Und wenn alles klappt, steht heuer ein Jubiläum an, die 50. Hausbesetzung.

Die Erfolgsreihe ist lang: Der in Gauting lebende Pianist Ludwig Seuss, Keyboarder der Spider Murphy Gang und früher Mitglied der Rock- und Bluesband von Nick Woodland, hat mit seiner eigenen Gruppe bereits zweimal den Zuschauerrekord gebrochen. Zweimal war auch der Kraillinger Musiker Walter Erpf vom Ballhausorchester La Rose Rouge und dem Weltmusik-Ensemble Youkali zu Gast. Dabei waren beispielsweise auch der Schauspieler und Regisseur Thomas Darchinger, die Schauspielerin Jutta Speidel, das Blues-Duo Black Patti, der Schauspieler und Autor Gregor Weber, der Jazz-Musiker Max von Mosch.

"Unser Traum war, die vielen Künstler, die hier leben, aus ihren Verstecken zu holen und wieder zusammen zu bringen. Ich versuche, am alten Format festzuhalten, und möchte mich auf die Kolonie konzentrieren. Sebastian liegt daran, die Bahngleise zu überqueren, den Bahnhof einzubeziehen, nach Stockdorf und Krailling zu gehen", sagt Friedrich. Ein Konflikt ist das nicht. Jeder organisiert, was ihm möglich ist. Hofmüller sei sehr gut vernetzt und kümmere sich meist um die Einladungen, erzählt Friedrich. Wer per Mail eine Einladung bekommt und sich nicht beeilt mit der Zusage, hat Pech, denn meist sind schon eine halbe Stunde nach Eingang der Nachricht die Plätze vergeben.

Der Aufwand für das Organisieren soll so gering wie möglich ausfallen, schließlich sind beide Schauspieler gut beschäftigt. Hofmüller, der 2017 seinen 40. Geburtstag feierte und zum vierten Mal Vater geworden ist, hat immer mehrere Eisen im Feuer. Er spielt Theater, hat Rollen in TV-Filmen und Werbespots, macht Hörspiele und Lesungen, moderiert und inszeniert und ist Spielleiter des Jugendclubs vom Hofspielhaus München. Mit der Jugendgruppe nimmt er am Faust-Festival München 2018 teil, macht Schulprojekte mit Grundschulkindern und plant jetzt die Gautinger Maifestspiele. Und teilt sich Haushalt und Kinder mit seiner Frau, die als Gebärdendolmetscherin arbeitet.

Ernst Matthias Friedrichs Liste der Engagements ist nicht weniger lang. Friedrich, 65, der mit der Tänzerin und Choreografin Bettina Fritsche verheiratet ist und zwei Töchter hat, arbeitet als Theaterschauspieler, komponiert Bühnenmusik und spielt als Sänger und Geiger im Garmischer Metropolorchester. Lange war er Dozent an der Neuen Münchner Schauspielschule, seit fünf Jahren ist er an der Akademie für Darstellende Kunst in Regensburg fest angestellt und unterrichtet jeweils zwei Tage in der Woche. "Im vergangenen Jahr war ich 167 Nächte nicht zu hause", hat er zusammengerechnet. Seit ein Revival seiner ehemaligen Schulband Hitchhikers, in der er zusammen mit seinem Bruder, dem Schauspieler Daniel Friedrich, und den beiden Brüdern Werner und Wolfgang Thüring Rock-Hits covert, wieder zu regionaler Berühmtheit gekommen ist, müssen auch diese Band-Termine berücksichtigt werden.

"Es gibt noch viele unbesetzte Häuser in der Kolonie", sagt Friedrich. Er findet es bemerkenswert, dass so viele Bürger bereit sind, ihre Wohnzimmer aus- und um zu räumen und für Fremde zu öffnen. Oder auch ihre Gärten. Ganz begeistert erzählt er von einem zauberhaften Sommerabend mit spontanem Umzug in den Garten, die Cellistin Gisela Auspurg spielte, Walter Erpf las. Nun plant er einen Abend mit Theresa Hanich, einer ehemaligen Schülerin, die das kleine Theater "Mathilde Westend" gegründet hat. Und dann möchte er unbedingt den Hollywood-Schauspieler und "Bond-Bösewicht" Götz Otto aus Krailling nach Gauting holen. Klar, dass da ein sehr großes Wohnzimmer gefunden werden muss, dessen Kapazität dann womöglich doch gesprengt wird.

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