Süddeutsche Zeitung

Kandidatin für den Tassilo 2018:Kunst mit Zwangsjacke

Lesezeit: 2 min

Von Katja Sebald, Starnberg

Der Betrachter muss sich das Kunstwerk selbst erarbeiten. Elena Carr setzt ihn zum Beispiel in ein Fahrradkino. Da muss er sich nun auf einem alten Drahtesel abstrampeln, damit er vor sich einen Filmstreifen sehen kann. Mal radelt er einer Wurst an der Angel hinterher, mal darf er auf die Hintern junger Fahrradfahrerinnen aus einem Fellini-Film schauen. Was die junge Künstlerin Elena Carr macht, ist jedoch viel mehr als Klamauk: Sie führt den Besucher ihrer Performances und Ausstellungen in die Randbereiche seiner sozialen Kompetenz, sie will wissen, wie er sich in dieser oder jener Situation verhält, ob er mit in die "Gruppenzwangsjacke" schlüpft, sich in eine aus Schlafsäcken zusammengezippte Behausung traut oder sich eine "Fragenglocke" aufsetzen lässt.

Elena Carr, 1991 geboren und in Starnberg aufgewachsen, hat mit ihren meist installativen und performativen Arbeiten bereits viel Furore gemacht. Nicht nur in England, Griechenland, Australien, Rumänien und Österreich, sondern auch in München und in ihrem Heimatort Starnberg hat sie zahlreiche Kunstprojekte realisiert, meist in Kooperation mit anderen Künstlern. Im vergangenen Herbst ist sie mit dem Kulturförderpreis des Landkreises Starnberg ausgezeichnet worden. Die Jury war begeistert von ihrem Ansatz, künstlerische Arbeit mit sozialem Engagement und politischer Aktion zu verbinden. So ist sie beispielsweise vor fünf Jahren eine Patenschaft mit einer Asylbewerberin eingegangen, die sie unter anderem mit der Kamera dokumentiert. Sie bearbeitet ihre jeweiligen Themen - fast immer sind es gesellschaftliche Herausforderungen mit sozialen, politischen und ethischen Fragestellungen - aus unterschiedlichen Richtungen und präsentiert sie dann in einer Art Versuchsanordnung, bei der es immer auch um Raumerfahrungen geht.

Während ihres Studiums bei dem Schweizer Konzeptkünstler Res Ingold an der Münchner Kunstakademie war sie an zahlreichen, auch interdisziplinären Projekten beteiligt. Anfang 2016 nahm sie an "Müde Manöver - Aktionen und Objekte zur Veranstaltungsreihe Kunst und Inklusion" an den Münchner Kammerspielen teil. Im selben Jahr war sie im Rahmen eines Erasmus-Stipendiums als Gaststudentin bei Judith Huemer in Wien und trat dort bei "Wir Hunde" auf, einem Projekt des dänisch-österreichischen Theaterkollektivs Signa am Volkstheater. In der Münchner Frauenkirche zeigte sie beim "Aschermittwoch der Künstler" eine mobile Installation, die als Gruppenarbeit entstanden war.

Wie wichtig für Elena Carr der soziale Aspekt und das künstlerische Kollektiv ist, zeigt nicht zuletzt das Projekt, mit dem sie 2017 ihr Studium abgeschlossen hat: Es war ein "Telefonbuch", in dem sie alle ihre "Komplizinnen und Komplizen" der verschiedenen Projekte aufgelistet hat: Zu jeder Arbeit findet sich anstatt eines erklärenden Textes eine Telefonnummer, unter der man Informationen abfragen kann. "In Zusammenarbeit mit vielen" steht sozusagen als Widmung über ihrer Vita.

Auch der Betrachter oder besser der Vollender ihrer Kunstwerke darf sich angesprochen fühlen. Kneifen darf er dann aber nicht, wenn die Künstlerin ihn fragt, ob er ohne Hoffnung denken kann. Ob er immer weiß, was er hoffen soll. Ob er angesichts der Weltlage hofft, das es immer so weiter geht. Oder gar: "Bedrückt es Sie mehr, wenn sich ihre eigenen Hoffnung nicht erfüllen, oder wenn sich die Hoffnungen nicht erfüllen, die Eltern, Lehrer, Freunde oder Liebespartner in Sie gesetzt haben?"

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Quelle:
SZ vom 16.01.2018
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