Süddeutsche Zeitung

Tassilo:Fotos ohne Klischees

Michael Nguyen ist ein Flaneur mit Kamera, der seine Heimatgemeinde Gauting und den Landkreis Starnberg in seinen Bilderserien oft von völlig unerwarteten Seiten zeigt

Von Blanche Mamer, Gauting

Jeden Morgen, meist ganz früh, macht er sich mit seiner Kamera auf den Weg, um die Stimmung in der Morgendämmerung einzufangen. Seine Bilder stellt der Fotograf Michael Nguyen, 62, dann ins Internet, damit sie für jeden zugänglich sind: Aufnahmen, die mal absurd, meist überraschend und immer kunstvoll komponiert sind. Der Security-Mann etwa, der neben den Wäscheständern der Flüchtlingsunterkunft Andechs hockt, sieht aus wie ein verirrter Astronaut, der über umzäunter irdischer Habe wacht. Und das Bild einer alten Frau, die ihre Habseligkeiten hinter sich herzieht, könnte wegen der verschmierten Fassade im Hintergrund auch in einem Elendsviertel entstanden sein, ist aber in Herrsching gemacht.

Unter der Bezeichnung "Heimat Gauting: Am Straßenrand" hat Nguyen eine wirklich bemerkenswerte Serie über Gauting veröffentlicht, die sicher auch so manch einem, der schon viel länger hier lebt, noch unbekannte Seiten der Gemeinde zeigt. Auch die Serien "On the Streets of Solitude" und "By the lake, in the forest and in the meadow", die fast ausschließlich Motive aus dem Landkreis Starnberg zeigt, eröffnen ganz unerwartete Perspektiven. Da sind zum Beispiel die Aufnahmen vom Gautinger Sommerbad, das Nguyen im Schnee kurz vor Weihnachten fotografiert hat. Eine englischsprachige Architekturzeitschrift und ein französischen Foto-Magazin, ArchEyes und L'oiel de la Photographie, veröffentlichten im Januar die Bilder unter dem Titel "Waiting for the summer". Es sind faszinierende Fotos, die aus Gebäuden, Treppen, Bäumen und Grünfächen durch Reflexionen im Wasser fantastische Gebilde machen. Oder zuletzt die Serie über die alten unbenutzten Gebäude auf dem Gelände der Asklepios Fachklinik am südwestlichen Rand von Gauting.

Mit einer Nikon hatte er 1988 begonnen, Fotos zu machen. Da lebte er noch in Berlin. 2008 ist Michael Nguyen nach München gezogen, seit 2015 wohnt er in Gauting und widmet sich seit nun knapp drei Jahren wieder ganz der Fotokunst, die er viele Jahre aus den Augen verloren hatte. Aus der Berliner Zeit hat er nur noch wenige Fotos, oft in Schwarz-Weiß, doch noch sehr viele Negative, die er noch auswerten müsste, erzählt Nguyen am Telefon. "Nun, als Frührentner habe ich viel Zeit, spazieren zu gehen und die Welt um mich herum zu betrachten und zu fotografieren", sagt er und man hört sein Schmunzeln. Nguyen war im Vorstand des Gautinger Kunstvereins und betreut immer noch dessen Homepage. Er ist Chefredakteur von Tagree, einem Online-Magazin für Fotografie und Kunst. Für September 2020 hatte er die "Gauting International Photo Week" mit 20 international renommierten Fotokünstlern geplant, die jedoch wegen Corona nicht zustande kam.

Allerdings hatte er selbst 2020 einige internationale Erfolge: So wurde sein Foto "Lockdown" beim "PX 3 - Prix de la Photographie Paris" mit Silber in der Kategorie "Fine Art/Digitally Enhanced" ausgezeichnet. Das strenge Bild von leeren Sesseln und aufgeschichteten Stühlen sei bei einem Spaziergang durch die Münchner Innenstadt entstanden, sagt er. "Ich habe die leeren Stuhlreihen durchs Fenster des Lokals ,Brenner' fotografiert." Der zweite Platz war für ihn die bisher höchste und angesehenste Auszeichnung, aber nicht die einzige, denn es kamen ebenfalls in Paris zehn lobende Erwähnungen hinzu. Besonders stolz ist er auf eine Auszeichnung der "Siena Creative Photo Awards 2020", in der Kategorie "Natur & Landschaft" erhielt er eine lobende Erwähnung für das Foto einer Gautinger Landschaft.

Die Kunst und die Freiheit zu fotografieren, was ihm vor die Linse kommt, waren Nguyen nicht in die Wiege legt. Er ist in Bad Wimpfen am Neckar und in Heidelberg aufgewachsen, zog mit 14 nach Hamburg zu einem Stiefbruder und hat mit 17 die Ausbildung zum Krankenpfleger begonnen. Viele Jahre hat er auf Intensivstationen gearbeitet und war als Ersthelfer unterwegs. Früher sei er gern gereist, doch mittlerweile könne er krankheitsbedingt nicht mehr weit wegfahren.

Wenn Sie eine Kandidatin oder einen Kandidaten für den SZ-Kulturpreis vorschlagen wollen, schreiben Sie bitte bis 30. April eine E-Mail an tassilo@sz.de.

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Quelle:
SZ vom 13.04.2021
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