Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender:Wenn der Alltag zur Schwerstarbeit wird

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Susanne Müller war einmal eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Bis sie erneut aus der Bahn geworfen wird

Von Ute Pröttel, Starnberg

Es ist ein Makel, den man ein ganzes Leben lang nicht mehr los wird. Susanne Müller wurde als junges Mädchen sexuell missbraucht. Nachdem ihre Eltern innerhalb eines Jahres gestorben waren wurden die damals Siebenjährige und ihre vier Geschwister in der Familie aufgeteilt. Auch ihre beiden Schwestern teilen dasselbe Schicksal. Damit fertig werden muss eine jede auf ihre Art und Weise. Susanne Müller macht das Abitur, baut eine mittelständische Firma mit auf, heiratet. In einer Therapie arbeitet sie die Schrecken der Kindheit auf. Nur Kinder kriegen, das mochte sie nicht. Ebenso wie ihre Schwestern. Der Zusammenhalt unter den Geschwistern ist eng. Auch das Verhältnis zu ihren beiden Brüdern. Dann fängt ihre scheinbar so stabile Lebenssituation an zu bröckeln. Im Zuge der Finanzkrise kriselt es auch in dem Unternehmen, in dem sie eine führende Position bekleidet. Die Firma bekommt eine neue Geschäftsleitung, wird restrukturiert. Susanne Müller passt nicht mehr ins Konzept. Sie kämpft. Wird gemobbt. Zieht vor das Arbeitsgericht. Verliert. Die Situation zerrt an ihren Nerven. Ende Vierzig möchte niemand eine gut bezahlte Position aufgeben. Die Migräneanfälle aus der Jugend kehren vermehrt zurück.

In derselben Zeit geht ihre Ehe kaputt. Sie findet heraus, dass ihr Mann sie betrügt. Existenzangst und Verunsicherung holen sie mit voller Wucht ein. Susanne Müller bricht zusammen. Muss in eine psychosomatische Klinik. Bis heute bewältigt sie ihre Tage nur mit Hilfe von Antidepressiva. Die Ehe ist nicht zu retten, es folgt die Scheidung. Arbeitslos und geschieden, kurz vor fünfzig - keine aussichtsreiche Perspektive. Dennoch schafft es die zierliche Frau, sich aus dem Tal herauszuarbeiten. Findet wieder eine Arbeit. Legt sich einen Hund zu, der sie zwingt hinauszugehen. Das Geld langt gerade für Miete und die täglichen Bedürfnisse. Ihre Bekleidung kauft sie im Secondhand oder auf Flohmärkten. Das Stöbern macht ihr richtig Spaß, erzählt sie und gebrauchte Textilien seien auch viel ökologischer. Im vergangenen Jahr bricht der Tod dann brachial in ihr Leben. Der Schwager stirbt, ihr Hund muss erst teuer operiert werden, um dann doch nicht zu überleben und schließlich stirbt im Sommer einer der Brüder. Wieder fällt sie in ein Loch.

Beginnt eine Meditationstherapie, die ihr neue Energie bringt, allerdings nicht von der Krankenkasse bezahlt wird. Zu Beginn des Winters nun der Schock, dass ihre Winterreifen nicht mehr in Ordnung sind. Doch für einen neuen Satz hat sie kein Geld. Ist aber auf das Auto angewiesen. Dass ihre 17 Jahre alte Waschmaschine auch nicht mehr schleudert, erzählt sie so nebenbei. Die tropfnasse Wäsche wringt sie aus oder schleudert sie bei der Nachbarin. Eigentlich sind es alltägliche Ärgernisse, doch einen Mensch mit der Geschichte von Susanne Müller können sie komplett aus der Bahn werfen. Vier neue Reifen und eine neue Waschmaschine, würden ihrem Leben zwei Sorgen weniger bescheren.

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Quelle:
SZ vom 31.12.2016
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