SZ-Adventskalender:Letzte Rettung "Klein-Sibirien"

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Claus Borchert sitzt auf gepackten Koffern. Nach drei Jahren in der Gilchinger Obdachlosen-Unterkunft zieht er jetzt in eine Sozialwohnung. (Foto: Georgine Treybal)

Als eine der wenigen Gemeinden betreibt Gilching eine eigene Obdachlosen-Unterkunft.

Von Carolin Fries, Starnberg

"Villa 38" nennen die Gilchinger ihre Obdachlosenunterkunft im Sommer gerne, wegen des freien Zugangs zum Baggersee gleich hinter den Büschen. Im Winter ist hingegen öfter von "Klein-Russland" die Rede, weil die 15 quadratisch um einen Flecken Wiese angeordneten Unterkünfte wie eine Arbeitersiedlung irgendwo in Sibirien anmuten. Wer in einem der schlicht an der Eingangstür durchnummerierten Zimmer landet, unterschreibt einen auf drei Monate befristeten Vertrag und zahlt fortan 111,34 Euro Kaltmiete für 25 Quadratmeter Wohnfläche inklusive Küchenzeile und Badezimmer. An Heiz- und Stromkosten kommen durchschnittlich 80 Euro im Monat dazu. Die Unterkunft ist als Übergangslösung gedacht, wird aber immer öfter zur Dauerlösung. Den Sprung in eine Sozialwohnung schaffen nur wenige.

Claus Borchert ist es jetzt gelungen. Der 58-Jährige Elektroinstallateur bezieht in diesen Tagen nach drei Jahren in der Obdachlosenunterkunft Gilching eine Sozialwohnung im Ort. Er freut sich wie ein kleines Kind, wieder mehrere Räume bewohnen zu können, schläft er doch so gerne kühl. Borchert war lange spielsüchtig. Als ihn seine Freundin vor elf Jahren verließ und auch noch der geliebte Hund verstarb, "habe ich nur noch gespielt, mir war alles egal." Erst wurde ihm der Job gekündigt, dann die Wohnung, es kam zur Zwangsräumung.

An seinem 55. Geburtstag stand er auf der Straße und war damit ein Fall für Bernd Schauer aus dem Gilchinger Ordnungsamt. Der Verwaltungsangestellte kümmert sich um die Unterbringung der Obdachlosen in der Gemeinde und ist froh, dass sich die Gemeinde als eine der wenigen im Landkreis seit 17 Jahren eine eigene Unterkunft mit einer Sozialpädagogin in Teilzeit leistet. Etwa 30 000 Euro bezahlt die Gemeinde dafür im Jahr. "Das ist wesentlich günstiger, als die Unterkunft in Pensionen", sagt Schauer. Aktuell hat er zwei Personen in einer Pension in Fürstenfeldbruck untergebracht, zwischen 800 und 900 Euro zahlt er dort pro Person und Monat.

Schauer steht in engem Kontakt mit Simone Christenn, die an zwei Tagen in der Woche das Büro in der Obdachlosenunterkunft aufsperrt. Die Sozialpädagogin berät Klienten aus Gilching präventiv, etwa bei Kündigungen wegen Eigenbedarfs oder Räumungsklagen. Außerdem ist sie für die Bewohner der Unterkunft da. "Mir hat sie sehr geholfen", sagt Borchert. "Ich habe einen Tritt gebraucht." Der 58-Jährige hat eine Therapie gemacht und nach einem Fersenbeinbruch Rente beantragt. Jetzt sammelt er gebrauchte Möbel für das neue Domizil zusammen, in Zimmer Nummer 4 stehen die Umzugskartons bereit. Jalousien und ein Teppich fehlen ihm noch. Christenn hilft, wo es geht. "Es gelingt mir leider nicht, alle Klienten wieder wohnfähig zu machen".

Ist die Sozialpädagogin nicht in Gilching, steht sie in der Wärmestube für Obdachlose am Starnberger Bahnhof. Ein schlichter Container, in dem regelmäßig sechs bis acht Menschen täglich für ein paar Stunden eine warme Bleibe und die nötigste Versorgung finden. Ein Gemeinschaftsprojekt der Stadt Starnberg, die der Caritas das Grundstück mietfrei zur Verfügung stellt, und welches der SZ-Adventskalender vor 20 Jahren finanziell unterstützt hat. Wer hier herkommt, lebt auf der Straße und holt sich bei Christenn zwischen 10.15 und 10.45 Uhr den Hartz-IV-Tagessatz in Höhe von 13,63 Euro ab. Doch nicht nur das Geld ist wichtig. In der Wärmestube gibt es Frühstück für einen Euro, Duschen kostet 50, die Nutzung der Waschmaschine einen Euro, der Trockner 1,50 Euro. In der Regel schlafen die Klienten in der wohligen Wärme bereits nach einer Tasse Kaffee und dem Frühstück an den Tischen ein. "Die kommen durchgefroren und übernächtigt hier an", weiß Christenn. Sie bietet natürlich auch Beratungsgespräche an, "ohne Seelen-Striptease", wie sie betont.

Doch die meisten wollen nicht reden. Für sie ist die Wärmestube ein geschützter Raum, in dem sie sich nicht rechtfertigen müssen. Hier gibt es alles, was sie brauchen; lediglich im Sommer fehlt ein stabiler Sonnenschutz, um auch den Außenbereich für gemeinsame Aufenthalte nutzen zu können, wie Christenn sagt. Im Winter hat sie immer wieder Klienten, die ohne Isomatte und Schlafsack unterwegs sind. Auch hier könnte der SZ-Adventskalender helfen. Die Sozialpädagogin kocht nach kalten Nächten bei Bedarf mittags eine warme Suppe, auch eine kleine Weihnachtsfeier gab es in früheren Jahren schon mal. Doch davon ist man abgekommen. "Keinem hier ist weihnachtlich zumute."

© SZ vom 23.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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