SZ-Adventskalender:"Isolation ist grausam"

Starnberg, Lebenshilfe, Mittagsessen

Christine Offtermatt (stehend) mit Besucherinnen und Besuchern des Mittagstischs im Seniorentreff Starnberg.

(Foto: Georgine Treybal)

Die Pandemie hat Senioren und Menschen mit Behinderung viele Angebote zur Teilhabe genommen. Interessensvertreter sehen einen Rückschlag für die Inklusion.

Von Christina Rebhahn-Roither

Es waren einmal zwei Eheleute, die lange Zeit zusammen in einem Haus mit Garten lebten. So könnte eine schöne Geschichte beginnen, in diesem Fall ist es jedoch die einer Isolation - und der Befreiung daraus. Erzählt wird die Geschichte, die schon einige Jahre zurückliegt, von Christine Offtermatt. Sie ist Wohnberaterin im Landkreis und besucht Menschen, um mit diesen zu überlegen, wie sie auch im Alter und mit möglichen körperlichen Einschränkungen in ihrer gewohnten Umgebung bleiben können, etwa nach einem Schlaganfall. Manchmal rückt Offtermatt Möbel um, manchmal wird das komplette Bad umgebaut.

Im Fall des Ehepaares hat das Haus acht Stufen zur Haustür hinauf, die zu einem unüberwindbaren Hindernis für den dementen Ehemann im Rollstuhl wurden, wie Offtermatt erzählt. Er konnte das Haus nicht verlassen, wurde dort von seiner Frau und einem Pflegedienst betreut. Offtermatt organisierte einen Weg, der in Serpentinen durch den Garten bis zur Straße führte, ließ die Gartentür anpassen. Was nach keiner allzu großen Veränderung klingt, gab der Ehefrau wieder Luft und Zeit für sich. Ihr Mann blühte auf, kam in eine Tagespflege und lernte, wieder ein paar Schritte mit dem Rollator zu machen.

Bei ihren Terminen fragt Offtermatt auch oft, wer beispielsweise beim Einkauf hilft und regt Sozialkontakt an, etwa über den Seniorentreff Starnberg, den sie stellvertretend leitet. Viele der Besucher hätten, als Treffen trotz Pandemie wieder möglich waren, "mit den Hufen gescharrt", Ausflugsfahrten waren schnell belegt. Beim Mittagstisch dauerte das etwas länger, jetzt laufe er aber wieder gut. Offtermatts Arbeit als Wohnberaterin lief während der Pandemie weiter. "Es war den Menschen so wichtig, wieder mal zu reden", sagt sie am Telefon.

Wenn das Leben im eigenen Zuhause nicht mehr möglich ist, gibt es im Landkreis laut Landratsamt aktuell 14 Seniorenheime mit insgesamt 1269 stationären Plätzen. Dazu drei ambulant betreute Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz.

"Ich finde, dass man im Altenheim überhaupt nicht alleine sein muss", sagt Diana Sturzenhecker, Heimleiterin des Caritas-Altenheims Maria Eich in Krailling. Für Sturzenhecker ist das Heim auch ein Mittel gegen Einsamkeit. Manche Bewohner würden regelrecht aufblühen, weil "was los ist", zum Beispiel Schach, Bingo oder Gymnastik. Coronabedingt fallen jedoch in den jeweils betroffenen Wohnbereichen immer wieder Angebote weg. Das soziale Leben gelinge trotzdem. Dennoch hofft sie auf eine Zukunft ohne totalen Lockdown im Heim. Sie sagt: "Wenn man total vereinsamt und keinen Lebenswillen mehr hat, stirbt man nicht mit oder an Corona, aber trotzdem wegen Corona."

Den Kampf gegen Isolation und Einsamkeit führt auch der telefonische Besuchsdienst "Offenes Ohr". Simone Berger koordiniert dafür Ehrenamtliche und Menschen, die angerufen werden möchten. Letztere seien meist über sechzig, auch die Ehrenamtlichen oft älter als fünfzig. Was entstehen soll, ist ein regelmäßiger Austausch, aktuell gibt es laut Berger 34 Telefon-Tandems. Zu sagen "Ich fühle mich einsam", sei nicht immer einfach. Ist die Verbindung einmal hergestellt, könnten Telefonate schöne Erinnerungen zurückholen und Impulse setzen. Aber um Menschen "wirklich aus der Isolation zu holen, muss natürlich mehr sein."

"Isolation ist grausam" für Menschen ohne Behinderung, aber besonders für jene mit Grunderkrankung, weiß Claus Angerbauer. Er ist Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Behindertenfragen im Landkreis. Selbstisolation nahm er schon vor der Pandemie unter Menschen mit Behinderung wahr. Resignation und mangelndes Selbstwertgefühl nennt er als Gründe, die oft in einen Teufelskreis mündeten. In der Pandemie sei die Gefahr noch größer geworden. Sich nach einem Lockdown wieder aufzuraffen, sei schwierig. Für Menschen mit geistiger Behinderung etwa seien Veränderungen in Tagesabläufen "extrem schädlich".

SZ-Adventskalender Logo

Angerbauer erzählt auch von Herausforderungen im Pandemiealltag: Ihm als blinden Menschen fällt es schwer, Abstände einzuhalten, weil er sie nicht einschätzen kann. Gehörlose haben wegen der Masken Probleme bei der Kommunikation. Allgemein ist laut Angerbauer eine Teiletappe zur inklusiven Gesellschaft erreicht, aber die Pandemie habe sie "um Jahre zurückgeworfen". Auch Angst vor einer möglichen Triage sei ihm kommuniziert worden, als das Thema aufkam. Manche würden sich fragen "Bin ich dann das weniger Prozent werte Leben?" Insgesamt leben nach Angaben des Landratsamts mehr als 14000 Menschen mit Behinderung im Landkreis (Stand Ende 2020). Etwa 57 Prozent der Menschen mit Behinderung sind 65 Jahre oder älter.

Mehr Senioren als noch vor ein paar Jahren nehmen mittlerweile auch Angebote der Starnberger Tafel wahr. Das ist zumindest der Eindruck von Erika Ardelt, Vorsitzende der Tafel. Es handle sich dabei besonders um ältere Frauen, die von der Grundsicherung oder einer geringen Rente leben. Aktuell hat die Tafel 35 Prozent ältere Gäste, insgesamt versorgt sie knapp 300 Menschen im Bereich Starnberg. Von Lebensmittelabholung sofort auf hungernde Menschen zu schließen, stimme aber nicht. Viel eher könnten sich Menschen mit dem eingesparten Geld etwas leisten, das andernfalls nicht drin wäre, ein Kinoticket etwa. "Teilhabe im Leben" nennt Ardelt das. "Das ist für jeden Menschen genau so wichtig."

Für Teilhabe setzt sich auch die Lebenshilfe Starnberg ein, die in Wohnheimen 86 Menschen mit geistiger Behinderung stationär betreut. "Teilhabe heißt auch, sie informationsmäßig in der Pandemie nicht auszuschließen", sagt der pädagogische Leiter Christian Münzel. Was er damit meint, erklärt er zusammen mit Sibylle Häge, die eines der Heime leitet: Leichte Sprache, Visualisierung und offenes Ansprechen von Ängsten, seien im Umgang mit der Pandemie sehr wichtig. Die Bewohner seien "einsichtig" und "umsichtig" mit Einschränkungen umgegangen, ihre Anpassungsleistung "ein Vorbild" - obwohl ihnen die Situation natürlich "furchtbar auf den Nerv" gehe, so Münzel. Etwa sechs Monate konnten sie beispielsweise nicht zur Arbeit gehen.

Münzel und Häge haben jedoch insgesamt den Eindruck, dass die Situation mit all ihren Einschränkungen sich nicht dramatisch für Menschen mit und ohne geistige Behinderung unterscheidet. Generell sei die Pandemie schon ein Rückschlag beim Thema Inklusion gewesen, die Akzeptanz von Menschen mit Behinderung in Starnberg aber grundsätzlich hoch.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: