SZ-Adventskalender:Alleine gelassen

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Die Corona-Krise hat die schwierige Situation benachteiligter Kinder und Jugendlicher verschärft. Hilfsorganisationen erreichen sie kaum noch

Von Linus Freymark, Starnberg

Was ist nicht alles schon geredet und geschrieben worden über die Situation der Kinder und Jugendlichen in dieser Pandemie. Man müsse die Jüngsten im Kampf gegen das Virus mehr berücksichtigen, hieß es da oft, und zumindest ein bisschen ist das ja auch passiert: die Schulen blieben offen, den Sommer über war fast so etwas wie eine normale Freizeitgestaltung möglich. Doch jetzt ist die kalte Jahreszeit zurück, und weil mit dem Winter auch Corona wieder mit voller Wucht da ist, werden bei Eltern und Pädagogen Erinnerungen an das vergangene Jahr wach: keine Schule, kein Sportverein, keine Treffen mit Freunden.

Was macht das mit Kindern? Wie kann man sie in diesen Zeiten unterstützen? Und trifft es in solchen Krisen nicht allen voran jene, die sowieso schon schwierigere Startbedingungen ins Leben hatten als andere? Im Mädchenhaus Gauting finden Mädchen aus extrem schwierigen Verhältnissen Zuflucht und Betreuung. Missbrauch, Drogen und Gewalt in der Familie - es gibt wenig, was die Mädchen hier nicht erlebt haben. "Alles, was man in Filmen sieht und von dem man denkt, das kann doch nie in echt passieren, findet man bei uns", sagt Verwaltungsangestellte Josefine Müller. Die Corona-Krise hat die Situation noch einmal verschärft. Der Bedarf sei gestiegen. Und: "Es gibt deutlich mehr extreme Fälle", meint Müller. Fälle, in denen manchmal auch das Jugendamt erst einmal nicht mehr weiß, wie man den Mädchen helfen kann, zu schwer sind die Traumata.

Die Mädchen in Gauting leben in Wohngruppen, in den schweren Phasen der Pandemie durften sie nur noch die Mädchen aus der eigenen Gruppe treffen. "Sie hatten sonst eigentlich keine sozialen Kontakte", sagt Müller. Das hat das Gefühl der Einsamkeit noch einmal verstärkt, unter dem hier sowieso schon viele leiden, weil sie kaum eine Bindung zu ihren Eltern hatten. "Wir haben hier Schattenkinder", sagt Müller. "Keine Sonnenkinder." Umso beachtlicher sei es, wie sich die Mädchen an die Corona-Regeln halten würden. Das müsse auch unbedingt sein, erklärt Müller. Denn würden sich mehrere Betreuer gleichzeitig infizieren und die Betreuung könne deshalb nicht mehr gewährleistet werden, müsste das Heim wohl vorübergehend schließen. "Was dann mit den Mädchen passiert? Keine Ahnung."

Auch in der Schule haben die Pandemie und ihre Folgen Spuren hinterlassen. Und auch hier spielen die Verhältnisse zuhause eine Rolle. "Manche Eltern können das gut abfedern", sagt Nicole Bannert, die stellvertretende Kreisvorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV), über Homeschooling und Schulschließungen. "Aber manche können es eben nicht." Das beginne bei der technischen Ausstattung und ende mit der Unterstützung beim Lernen. Manche Kinder hatten beispielsweise keinen Zugang zu einem Laptop und mussten über das Smartphone der Eltern am Online-Unterricht teilnehmen. Der Landkreis hat dann für diese Schüler Tablets bestellt, aber auch da gab es Lieferengpässe und Verzögerungen. "Kindern, denen es vor Corona schon nicht gut ging, geht es nun auf keinen Fall besser", sagt Bannert. Trotz dieser Entwicklung und der entstandenen Bildungslücken möchte Bannert aber nicht von einer verlorenen Generation sprechen. "Das Aufholen wird schwierig, für alle Beteiligten", sagt sie. "Aber wenn man dranbleibt, kann man es schaffen." Wichtig sei hierfür die Unterstützung der Politik, die endlich genügend finanzielle Mittel für die Bildung bereitstellen müsse.

Auch Ralph Stößlein vom Kreisjugendring (KJR) hat beobachtet, dass manche Kinder und Jugendliche besonders unter der Pandemie gelitten haben - etwa jene, die in beengten Wohnverhältnissen aufwachsen und in den Lockdown-Phasen keine Chance hatte, den Eltern mal für einen Nachmittag zu entfliehen. Wohin auch, war ja alles zu: Jugendtreffs, Sportvereine, Musikgruppen. Auch jetzt leidet die Jugendarbeit unter den Einschränkungen, seit Kurzem gilt dort 2G. "Im Moment können wir gar nichts in Präsenz machen", berichtet Stößlein. Denn viele Teenager seien nicht geimpft, weil ihre Eltern das so wollen. "Bei dieser Frage sind Jugendliche nicht selbstbestimmt", erzählt Stößlein. Deshalb müssten sie nun mit den Folgen einer Entscheidung leben, die sie selbst gar nicht getroffen haben. Die Pädagogen sowie die vielen Ehrenamtlichen würden zwar ihr Bestes geben, um zumindest online ein Programm anzubieten - jetzt, wo Lagerfeuer und Stockbrot mal wieder nicht möglich sind. Einfach sei das aber nicht. "Jugendarbeit lebt schließlich von Verlässlichkeit."

Doch in Krisen wie der Corona-Pandemie, in der das Einzige, auf das man sich verlassen kann, neue und meistens äußerst kurzfristig verkündete Maßnahmen sind, kann man Kindern und Jugendlichen kaum ehrlich gemeinte Aussichten auf die nächsten Monate geben. Das macht es schwer - für alle, aber ganz besonders für jene, die es noch nie leicht hatten.

© SZ vom 27.11.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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