Hitler-Attentat am 20. Juli 1944:Wer hat Stauffenbergs Aktentasche besorgt?

Lesezeit: 3 Min.

Bild eines fehlgeschlagenen Anschlags: Reichsmarschall Hermann Göring in heller Uniform und der Chef der "Kanzlei des Führers", Martin Bormann (links), begutachten die Schäden des Attentats in der Wolfsschanze. (Foto: Heinrich Hoffmann; UPI/dpa)

Diese Frage stellt sich der BR-Journalist Thies Marsen in der Podcastreihe „Alles Geschichte“, nachdem seine Oma stets behauptet hat, sie sei das gewesen. Eine Spurensuche mit erstaunlichen Ergebnissen.

Rezension von Linus Freymark, Dießen

21. Juli 1944, kurz nach ein Uhr nachts: In den Volksempfängern des Reichs ertönt die Stimme Adolf Hitlers. Der Diktator meldet, er sei „unverletzt und gesund“, nachdem am Vortag eine „ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich unvernünftiger, verbrecherisch-dummer Offiziere“ mit einem Attentat auf ihn gescheitert ist. Einer der führenden Köpfe der Gruppe, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, ist zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Er ist wie drei andere Mitstreiter im Hof des Bendlerblocks erschossen worden. Gleichzeitig machen die Nazis Jagd auf weitere Verschwörer. Es gibt Verhaftungen, Todesurteile, Suizide.

Auch Major Walter Rudolph wird verhört. Er kannte Stauffenberg, zudem gehörte er zum Stab von Generalquartiermeister Eduard Wagner, der Teil der Offiziersgruppe war, die Hitler töten wollte. Doch Rudolph wird weder verhaftet noch verurteilt. So weit, so gut. Nur: Wie kann das sein? Konnte die Gestapo Rudolph einfach nichts nachweisen? War er in die Attentatspläne überhaupt eingeweiht? Und woher kam eigentlich die Aktentasche, in der Stauffenberg die Bombe ins Führerhauptquartier geschmuggelt hat?

Diesen Fragen geht der am Ammersee lebende BR-Journalist und Rechtsextremismus-Experte Thies Marsen in seinem Podcast „Omas Tasche und das Hitler-Attentat“ nach. Walter Rudolph war sein Großvater. Und: Marsens Oma Karoline hat bis zu ihrem Tod im Sommer 2020 stets behauptet, die Aktentasche für die Bombe, die habe sie besorgt.

Damit ist der Grundstein gelegt für Marsens Spurensuche in der eigenen Familienhistorie. Wie in diesem Podcastgenre üblich, bekommt der Hörer nicht gleich zu Beginn das Ergebnis mitsamt Hintergründen und Einordnungen präsentiert. Nein, Marsen nimmt sein Publikum mit auf seine Recherche: in den Fundus seines Cousins, in dem die Briefe lagern, die sich seine Großeltern während des Krieges geschrieben haben; zu Gesprächen mit Mutter und Tante; und zum Treffen mit Stauffenbergs Enkelin Sophie von Bechtolsheim, die wie Marsen und viele andere aus der Generation einen Rucksack geerbt haben, gefüllt mit Geheimnissen, Verdrängung und Verklärung. Das Erbe von zwölf Jahren Diktatur. In vielen deutschen Wohnzimmern steht dieser Rucksack noch heute unausgepackt in der Ecke, weil niemand weiß, was genau drin ist. Und wahrscheinlich wollen das viele gar nicht so genau wissen.

Der BR-Journalist Thies Marsen ist tief in seine Familiengeschichte eingetaucht. (Foto: Georgine Treybal)

Marsen macht sich daran, den Rucksack auszupacken und holt Erstaunliches heraus. Denn es spricht vieles dafür, dass so manche Erzählung seiner Großmutter gestimmt hat, zum Beispiel die, wonach das Ehepaar Rudolph wenige Tage vor dem Attentat als „Gäste des Führers“ am Obersalzberg geweilt haben soll, zur selben Zeit wie Stauffenberg. Ursprünglich wollte dieser die Bombe hier schon zünden, am 11. Juli 1944. Kann es ein Zufall sein, dass Walter Rudolph und seine Frau zu diesem Zeitpunkt ebenfalls in Berchtesgaden waren? Denn Marsen stellt fest: Dieser Teil der Geschichte stimmt, seine Großeltern waren tatsächlich da.

Hat die Aktentasche hier ihren Besitzer gewechselt? Ist sie hier an Stauffenberg übergeben worden? In den Briefen aus dem Feld nach Hause an seine Frau hat Rudolph sich schließlich auffallend oft darüber beklagt, dass ihm eine standesgemäße Tasche fehlt. Hätte er sich die nicht einfach selbst besorgen können – trotz Krieges und Mangelwirtschaft? Die meisten anderen Offiziere hatten ja auch eine. Aber wenn Marsens Großeltern tatsächlich in die Attentatspläne verwickelt waren: Warum ist es ihnen nicht so ergangen wie den anderen daran beteiligten Militärs? Rudolph wird im Herbst 1944 nach Ostpreußen abkommandiert, ansonsten aber bleibt die Familie unbehelligt.

Spotify

Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von Spotify angereichert

Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von Spotify angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.

So geht es in Marsens Podcast hin und her: Mal findet er Hinweise darauf, dass die Geschichte stimmt. Dann entdeckt er wieder etwas, das alles infrage stellt. So wird es bis auf eine kleine Länge zu Beginn nie langweilig, auch, wenn man nicht erwarten darf, auf alle Fragen eine abschließende Antwort zu bekommen. Aber Marsens jahrelange Recherche fördert stets Dinge zutage, die überraschen. Durch die ehrliche Aufarbeitung seiner Familiengeschichte zwingt Marsen seine Hörer dazu, sich mit der eigenen Historie zu befassen. Wird bei uns zu Hause über den Krieg geredet? Wenn ja: wie? Und wenn nein: warum nicht?

Trotz der Nähe schafft es Marsen stets, die journalistische Distanz zu wahren. Genau das stellt den Journalisten vor ein Dilemma: Denn deutlich schneller als die Sache mit der Aktentasche lässt sich klären, dass Walter Rudolph höchstwahrscheinlich für Kriegsverbrechen verantwortlich war, unter anderem in Serbien oder auf Kreta. Marsen ringt mit sich, ob er seinen Opa posthum als Kriegsverbrecher hinstellen darf. Andererseits: Würde diese Seite fehlen, wäre die Geschichte ja wieder nicht komplett, würde wieder etwas ausgelassen werden, um das Bild der heilen Familie aufrechtzuerhalten. Und genau damit will Marsen ja aufräumen.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusFische im Badesee
:Wer schwimmt mit uns im Starnberger See?

Badegäste teilen sich das Wasser mit winzigen, aber auch recht großen Fischen. Manche haben einen ziemlich schlechten Ruf. Wem Schwimmer begegnen könnten - ein Überblick.

Von Astrid Becker, Jaqueline Kuhn, Katja Schnitzler und Dominik Wierl

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: