Mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg ist der Umgang mit dem Nationalsozialismus auf dem Land oft noch ein Tabuthema. Viele Fragen sind offen, beispielsweise wie sich die lokalen Eliten zu den NS-Eliten verhielten, wie Handlungsspielräume genutzt wurden, oder wie das Verhältnis zwischen Ortsgruppenleiter, Bürgermeister und Einwohnern aussah. Nach der Gemeinde Pöcking hat sich nun auch Feldafing entschlossen, seine NS-Vergangenheit aufzuarbeiten. In der letzten Sitzung vor der Sommerpause hat der Gemeinderat die Geschichtsprofessorin Marita Krauss und den Historiker Erich Kasberger damit beauftragt, ein Sachbuch zum Thema "Feldafing und der Nationalsozialismus" zu erarbeiten.
In Sachen NS-Vergangenheit nimmt die Gemeinde eine Sonderstellung ein: Hier gab es die Reichsschule, eine Eliteschule mit 200 Lehrern und 400 Schülern, die aus ganz Deutschland kamen. Die acht "Sturmblockhäuser" der ehemaligen Reichsschule stehen unter Denkmalschutz. Auf dem 31,7 Hektar großen Kasernengelände, das damals doppelt so groß war, wurde nach dem Krieg ein DP-Camp eingerichtet. Es war ein Auffanglager für in Deutschland gestrandete Ausländer, den so genannten "Displaced Persons". Von 1945 an lebten hier nach Angaben von Bürgermeister Bernhard Sontheim bis zu 6000 ehemals verfolgte Juden. Im Mai war laut Sontheim eigentlich eine Gedenkveranstaltung zum Thema 75 Jahre DP-Camp geplant. Doch der Termin ist wegen der Corona-Pandemie ausgefallen. Auch habe die Gemeinde abwarten wollen, bis sie das Bundeswehrgelände übernehmen kann, so der Rathauschef. Als aber bekannt wurde, dass die Bundeswehr in der Kaserne bleiben wird, wurde es Zeit zu handeln.
Nun werden sich die beiden Historiker aus Pöcking mit den Feldafinger Fragen beschäftigen. Teilweise können sie dabei auf Erfahrungen aus den Recherchen zurückgreifen, die sie für Nachbargemeinde benötigt haben, beispielsweise zu Fragen nach den Mitgliedern in NSDAP-Organisationen im Vergleich von Stadt und Land oder von Katholiken und evangelischen Bürgern. Auch das Wählerverhalten wird untersucht. Bei den letzten freien Wahlen 1933 beispielsweise erhielt die NSDAP in Pöcking 24,3 Prozent und in Feldafing 43,7 Prozent. In Pöcking war der Bürgermeister gleichzeitig Ortsgruppenleiter, der seine Handlungsspielräume für widerständisches Verhalten nutzte. In Feldafing indes gab es mit Heinrich Brubacher einen überzeugten Ortsgruppenleiter, der sich schon sehr früh der NSDAP angeschlossen hatte. Es gebe Hinweise, dass er Leute ausspioniert und wohl auch hingehängt habe, aber auch, dass er am Ende selbst denunziert und im Mai 1945 ohne Gerichtsverhandlung von den französischen Besatzern erschossen worden sei. Die Wissenschaftler werden sich bei ihren Forschungen unterschiedlicher Quellen bedienen. Es müssen Entnazifizierungsbögen, Spruchkammerakten und Unterlagen im Bundesarchiv in Berlin oder in Israel ausgewertet, Fotos gesichtet und Zeitzeugen befragt werden.
"Wir wollen Pöcking nicht doppeln", sagt Krauss, die am NS-Dokumentationszentrum München mitgearbeitet und auch ein Buch über Nazi-Karrieren verfasst hat. Ihr Ehemann Kasberger fügt hinzu: "Geschichte kann man nicht einfach nacherzählen." Man wolle das Ungewöhnliche, das "Besondere" für Feldafing, Garatshausen und Wieling herausarbeiten. Einheimische, Schüler und Lehrer der Reichsschule, aber auch die DPs - alle nannten sich Feldafinger. Es gehe darum, diese drei verschiedenen Identitätswelten zu untersuchen, sagt die Professorin, die an der Uni Augsburg lehrt.
Die beiden Historiker haben sich lange überlegt, ob sie sich nach Pöcking auch noch mit der Feldafinger Thematik befassen sollen. In Pöcking habe man zwar viel gelernt. "Aber es bringt einen schon an seine Grenzen", so Kasberger. Zumal das Ehepaar direkt neben den Nachkommen des damaligen Pöckinger NS-Bürgermeisters wohnt. Man müsse viel Zeit und Kraft in die Auseinandersetzung investieren. "Es ist eine große Herausforderung", ergänzt Krauss. Denn "wir wollen nicht an der Oberfläche bleiben, wir wollen es genau wissen." Krauss und Kasberger rechnen mit einem Zeitaufwand von etwa vier Jahren, bis sie das fertige Buch vorlegen können.