Öffentlicher Nahverkehr:Eine Notlösung mit Zukunft

Lesezeit: 3 min

Willkommen auf der Linie 955: Abaz Rrecaj öffnet die Tür seines Taxis für seine Fahrgäste. (Foto: Arlet Ulfers)

Wegen des Busfahrermangels verkehrt abends zwischen Starnberg und Weßling derzeit ein Taxi als Ersatz. Ist das womöglich die bessere ökonomische und ökologische Lösung für den öffentlichen Nahverkehr auf dem Land? Eine Erkundungstour auf der Linie 955.

Von Linus Freymark und Nikolai Vack, Starnberg

Da vorne steht mal wieder einer. Also bremsen, Blinker raus, rechts ranfahren. "Wohin müssen Sie?", fragt Abaz Rrecaj den Jugendlichen, der an der Bushaltestelle in Starnberg wartet. Der junge Mann ist verwirrt. Ist ja auch komisch, wenn da plötzlich ein Taxi vorfährt, ohne dass man eins bestellt hat. Und dann fragt der Fahrer auch noch, wo man hin will.

Es ist ein kalter Winterabend, Scheinwerferlicht durchdringt den Nieselregen: Unterwegs auf der Buslinie 955 von Starnberg nach Weßling, am Steuer sitzt Abaz Rrecaj, 59 Jahre alt, ein ruhiger und gelassener Mann mit einer Stimme fast wie Barack Obama. Seit vergangenem Herbst ist der Taxifahrer dort unterwegs als Ersatz für reguläre Busse. Die bleiben in den Abendstunden im Depot, das für die Linie zuständige Busunternehmen hat nicht genügend Fahrer, um die Linie 955 bis Betriebsschluss gegen 21.30 Uhr zu bedienen. Also springt um 18 Uhr Abaz Rrecaj ein, fünfmal pro Woche, bezahlt vom Busunternehmen.

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Vielen Fahrgästen ist dieses Modell nicht bekannt - auch dem jungen Mann an der Haltestelle nicht. Also fragt Rrecaj nochmal nach: "Müssen Sie nach Weßling? Buslinie 955?""Nein", antwortet der Teenager. Also gut, dann eben ohne ihn nach Weßling, Platz wäre gewesen. Ohnehin musste Rrecaj bislang noch nie jemanden wegschicken, weil sein Taxi überfüllt war. "Ist nie vorgekommen", sagt er. Andererseits: Viele Busse sind abends kaum besetzt. Und so stellt sich die Frage: Ist das aus der Not geborene Modell nicht vielleicht sogar effektiver? Sind Taxen in den Abendstunden die ökonomisch wie ökologisch bessere Lösung für den öffentlichen Nahverkehr auf dem Land?

Sieben weitere Menschen kann Abaz Rrecaj in seinem Großraumtaxi unterbringen. Nicht sehr viele, wenn man bedenkt, dass sonst mindestens 30 Fahrgäste in einen Linienbus passen. Aber es funktioniert. Und: Die abendlichen Fahrten haben etwas Familiäres. Die meisten seiner Fahrgäste kennt Rrecaj inzwischen, viele fahren die Strecke mehrmals pro Woche. Doch das Angebot ist zeitlich begrenzt und wird von der Busfirma immer wieder nur kurzfristig verlängert. Aktuell läuft es noch bis Ostern.

Für Abaz Rrecaj sind die regelmäßigen Fahrten am Abend ein gutes Geschäft. (Foto: Arlet Ulfers)

Im Starnberger Landratsamt ist man mit der Interimslösung zufrieden. "Wir haben davon keine Nachteile", sagt Landrat Stefan Frey (CSU). Der Landkreis beziehungsweise der Münchner Verkehrs- und Tarifverbund (MVV) schließen mit den privaten Busunternehmen Verträge ab, die Firmen bedienen bestimmte Linien. Kommen sie dieser Pflicht nicht nach, etwa weil sie nicht genügend Fahrer oder Fahrzeuge haben, drohen hohe Vertragsstrafen. Auf der Linie 955 steht das nicht im Raum. Nur erfolgt die Fahrgastbeförderung eben nicht per Bus, sondern durch Abaz Rrecaj im Sammeltaxi.

Auch Rrecaj ist zufrieden. "Ich habe feste Fahrten, ein Stück mehr Sicherheit", sagt er. Für ihn ist es ein gutes Geschäft, denn im Grunde handelt es sich um eine dreieinhalbstündige Taxifahrt. Ob als reguläres Taxi oder als Bus-Ersatz: Die Bezahlung bleibt für ihn als Fahrer die gleiche.

Für die abendlichen Fahrten auf der Linie 955 scheint sich also eine passende Alternative gefunden zu haben. Aber rechnet sich das auch für das Busunternehmen? Zwar umgeht man Vertragsstrafen und hat auch weniger Spritkosten. Aber wirklich günstig ist der Service von Abaz Rrecaj sicher nicht. Landrat Frey sieht in dem aus der Not geborenen Modell aber durchaus Potenzial: Gerade in den Abendstunden sei es zumindest aus ökologischer Sicht sinnvoll, kleinere Fahrzeuge verkehren zu lassen. Aktuell läuft eine Studie im Auftrag des Landratsamts, welche die Effektivität von Ruftaxen untersuchen soll. Je nachdem, was dabei rauskommt, ist das eine denkbare Alternative, um den ÖPNV abends ökologisch aufrechtzuerhalten. "Das ist sicherlich eine Überlegung", sagt Frey. "Aber es darf nicht zu unseren Lasten gehen." Und es müsse stets gewährleistet sein, dass Fahrgäste von A nach B kommen.

Langfristige Verträge verhindern eine kurzfristige Änderung des Betriebsablaufs

Allerdings ist Frey skeptisch, ob sich dieses Modell langfristig auch für die Busunternehmen rechnet. Denn wahrscheinlich sei es teurer, in den Abendstunden ein anderes Fahrzeug und einen externen Fahrer einzusetzen, als die Linie mit eigenen Ressourcen zu bedienen. Das bedeutet: Sollte sich der Landkreis dafür entscheiden, in den sogenannten "Schwachverkehrszeiten" nicht mehr auf Busse, sondern aufs Taxi als Alternative zu setzen, müssten die Verträge wohl neu ausgeschrieben werden. Denkbar wäre etwa, dass man die Busfirmen nur noch bis etwa 18 Uhr mit der Beförderungspflicht beauftragt und sie danach bis Betriebsschluss an Taxiunternehmer wie Abaz Rrecaj überträgt. Aufgrund der Laufzeiten der bereits geschlossenen Verträge wird es aber in jedem Fall dauern, bis es dazu kommt. Und: Auch der Kreis muss in Zeiten klammer Haushalte aufs Geld schauen. "Letztendlich ist es eine Kostenfrage", sagt Frey.

Zurück im Taxi von Abaz Rrecaj, das inzwischen in Hochstadt angekommen ist. "Wo müssen Sie aussteigen? Schule oder Dorf?", fragt Rrecaj mit Blick in den Rückspiegel in die hinterste Reihe. "Dorf", antwortet die junge Pendlerin. "Sicher? Ich kann auch irgendwo zwischendurch halten", entgegnet der Fahrer. Das ist ein Service, der ihm Freude bereitet. "Was kostet es mich, den Leuten ein Stück weit entgegenzukommen?", sagt Rrecaj. "Gerade wenn jemand viel zu tragen hat. Ich halte an, mache den Warnblinker rein, dann kann ich die Leute überall rauslassen." Und egal, was man von dem Taximodell halten mag: Das hat schon was.

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