Ausstellungen:Grenzgänge und Neuanfänge

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Qian Geng aus China hat in der Villa Waldberta in Feldafing seine Haare in schwarze Farbe getaucht und damit große gelbe Papierbögen bemalt, während die Kölnerin Laura Totenhagen dazu sang. Cyrille Beirnaert hielt die Szenerie zeichnerisch fest. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

In Starnberg, Pöcking und Feldafing öffnen 15 Kunstschaffende am Wochenende ihre Ateliers. Eine Einladung zum Staunen und Kennenlernen in besonderen Räumen.

Von Katja Sebald, Starnberg/Pöcking/Feldafing

Die Welt ist aus den Fugen und die Künstler in Starnberg, Pöcking und Feldafing versuchen, sie zu einem besseren Ort zu machen. Sie halten zusammen, was auseinander fällt. Sie flicken und nähen, sie zerschneiden Altes und fügen Neues aneinander, sie zeigen Abgründe und spannen Netze auf. Am kommenden Wochenende sind noch einmal fünfzehn verschiedene Ateliertüren geöffnet: Die Künstlergruppe „Offene Ateliers“ und ihre ausstellenden Gäste bieten spannende Einblicke in ihre Arbeitsprozesse. Insgesamt sind 19 verschiedene Positionen aus Malerei, Zeichnung, Druckgrafik, Fotografie, Bildhauerei, Objektkunst, Installation und Video zu sehen, auch eine Schmuckkünstlerin stellt mit aus. 

Die Malerin und Bildhauerin Annette Girke studierte ursprünglich Textilwirtschaft und arbeitete in der Modebranche, bevor sie zur Kunst fand. In ihrem Atelierraum an der Possenhofener Straße zeigt sie nun Bilder, für die ihr alte Burda-Schnittmusterbögen als Ausgangspunkt dienten: Sie fügte zwischen die Linien gemalte Landschaften, Seen und schneebedeckte Gebirgszüge ein. Hosenzwickel und Armkugeln wurden zu spitzen oder runden Gipfeln, zwischen Nahtzugaben und Umbrüchen fanden Flussläufe und Wälder Platz. Dann steppte Girke einige der Linien mit rotem Faden ab, markierte bestimmte Stationen mit Kreuzstichen, einige Beschriftungen ließ sie stehen, andere deckte sie ab – und machte so aus den Vorlagen für Kleider, Röcke und Hosen imaginäre Wanderkarten und Pistenpläne. Diese wundersam verwirrenden und gleichzeitig sehr poetischen Papierarbeiten heißen nun „Frühjahr-Sommerkollektion 2024“ oder eben „Herbst-Winter-Kollektion“.

Die Zeitreise in die Wirtschaftswunderzeit, als fleißige Hausfrauen ihre Sommerkleider selbst nach Schnittvorlagen nähten, findet eine beinahe nahtlose Fortsetzung im Atelier von Elena Carr, nur ein paar hundert Meter weiter. Dort steht eine alte Trockenhaube aus den Sechzigerjahren und die Besucher dürfen auf einem Stuhl darunter Platz nehmen. Anstelle warmer Luft für flotte Locken weht ihnen dann jedoch ein von Lorenz Schreiner komponiertes Klavierstück um die Ohren. An quer durch den Raum gespannten Leinen trocknen merkwürdig schöne Zeichnungen, an den Wänden zeigt Carr einige ihrer Text-Bild-Montagen, in denen sie mit leichter Hand gesellschaftliche, politische und psychologische Fragestellungen verhandelt. Auf den Tischen liegen neben Skizzenbüchern und Fotos auch das Konzeptbuch und Entwurfszeichnungen für ein Kunst-am-Bau-Projekt aus, das sie gerade realisiert. Man kann schauen, blättern, fragen, schmunzeln und sich wundern.

Annette Girke aus Starnberg macht aus Schnittbögen für Kleider, Röcke und Hosen imaginäre Wanderkarten und Pistenpläne. (Foto: Franz Xaver Fuchs)
Ulrike Prusseit aus Starnberg vor "Morgenröte" (links) und "The Artist is present". (Foto: Franz Xaver Fuchs)
Carmen Kordas zeigt als Gastausstellerin zwei Videoarbeiten. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Ebenfalls in der Possenhofener Straße befindet sich das Atelier von Ulrike Prusseit. Bilder von Frauen stehen seit vielen Jahren im Fokus ihrer Collagen, für die sie Fotos und Fotoausschnitte stark vergrößert auf die Leinwand aufbringt und dann mit den Mitteln der Malerei verfremdet und zu dichten Bildgeschichten verarbeitet. Mal sind es einzelne Kleidungsstücke wie ein lilafarbener Langhaar-Pelzmantel, seltsame Kopfbedeckungen oder spitze Schuhe, mit denen sie die Gemütsverfassungen ihrer Protagonistinnen ausdrückt, mal agieren die Frauen selbst zwischen Rückwärtsgewandtheit und Sich-neu-Erfinden, zwischen Anwesend-Sein und Sich-Entziehen. 

Eine nahezu perfekte Ergänzung zu diesen geheimnisvollen, auf subtile Weise rosaroten und zugleich dunklen Bildwelten sind die beiden Videoarbeiten, die Carmen Kordas als Gastausstellerin zeigt. Lebensbedingungen von Frauen, gesellschaftliche Umbrüche, Herausforderungen, Neuanfänge und Grenzgänge sind das Thema ihrer filmischen Arbeit. In dem Video „Kokon“ agiert sie im dunklen Raum auf spielerisch-tänzerische Weise vor und hinter einem mit Seilen umspannten Objekt, als befreie sie sich aus einem Kokon. Die Videoarbeit „Dreieck“ beschäftigt sich mit der prekären Lebenssituation von Frauen, die im 19. Jahrhundert als Mägde in der Landwirtschaft arbeiteten.

Im Atelier von Elena Carr weht Besuchern unter der Trockenhaube anstelle von warmer Luft ein Klavierstück um die Ohren. (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Hinter dem Possenhofener Bahnhof bespielt Susanne Mansen ein auf geradezu romantische Weise marodes ehemaliges Industriegebäude mit ihren großformatigen Zeichnungen, kleinen Malereien und einer ganzen Reihe von Keramikarbeiten. Mit „Flickwerk“ hat sie ihre Arbeit überschrieben: Die Klage der Tiere in den von Waldbränden zerstörten Gebieten, die Bedrohung durch Kriege und Klimawandel, manchmal aber einfach nur die verflixte Kompliziertheit des Alltags verarbeitet sie mit Farbe auf Leinwänden, die sie zerschneidet und wieder neu zusammensetzt, mit Tusche und spitzer Feder auf Papier oder textilem Untergrund – und manchmal auch mit Nadel und Faden. Von bezaubernder Merkwürdigkeit sind nicht zuletzt ihre bemalten Keramikobjekte. 

In Feldafing öffnet Susanne Palme-Waldemer ihr Atelierhäuschen in der Heimgartenstraße. Unter dem Titel „Stills“ zeigt sie neue Arbeiten, in denen sie Fotografie, Grafik und Malerei kombiniert. Seit Jahren fotografiert sie, sozusagen aus der Hüfte und unbemerkt, Passanten, die ihr wegen eines ungewöhnlichen Kleidungsstücks, eines mitgeführten Gegenstands, ihrer Körperhaltung oder einfach nur so auffallen. Diese gleichsam eingefrorenen Alltagsbeobachtungen spinnt sie auf dem Papier zu ganz eigenen Geschichten weiter. So wächst aus dem Foto einer Frau in einer Hose mit einem auffälligen Blattmuster ein ganzer Urwald, in dem sich nicht nur die Farben der Hose, sondern auch die Formen der Blätter wiederholen. Auch ein kleiner Junge, der sich über einen Luftballon in Form eines Tigers freute, gab Anlass für eine solche Bildgeschichte, in der sich ein spannendes Wechselspiel zwischen dem zufällig Gefundenen und dem bewusst Gestalteten ergibt.

Mit „Flickwerk“ hat Susanne Mansen ihre Arbeit überschrieben. (Foto: Franz Xaver Fuchs)
Inspiriert von einer Japanreise beschäftigte sich Bettina Tratzmüller mit den Körperformen und Bewegungen von Sumo-Ringern. (Foto: Franz Xaver Fuchs)
Jeanne Dees aus Starnberg vor "La Danse des Lignes". (Foto: Franz Xaver Fuchs)

Auch das Atelier von Bettina Tratzmüller befindet sich in Feldafing. Inspiriert von einer Japanreise beschäftigte sie sich mit den Körperformen und Bewegungen von Sumo-Ringern, nicht nur auf der Leinwand, sondern auch in einer ganze Reihe von Aquarellskizzen. Hier gelingt es ihr, mit sparsamem Einsatz der Mittel, wenigen schwarzen Strichen und flüchtigen Farbflecken, die Schwere der Körper und gleichzeitig die Dynamik der Bewegungen einzufangen. 

Weitere Stationen der „Offenen Ateliers“ sind in Starnberg bei Ursula Steglich-Schaupp, die zusammen mit Katharina Kreye ausstellt, in Pöcking bei Julius Wurst, in Feldafing bei Johannes Hofbauer, bei Peter Schaller und bei Ina Kohlschovsky. Als Gäste stellen die Starnberger Stadtmalerin Jeanne Dees im Paul-Thiem-Atelier, die ehemalige Stadtmalerin Annemarie Hahne in Söcking sowie Eva Grosshenning und Sophia Epp in Feldafing aus. Dort sind in seinem ehemaligen Atelier auch die Arbeiten des verstorbenen Malers Gunther Radloff zu sehen. Außerdem zeigen im Palmenhaus der Villa Waldberta die aktuellen Stipendiaten Qian Geng aus China und Cyrille Beirnaert aus Frankreich eine gemeinsame Ausstellung. 

Alle Ateliers sind am kommenden Samstag und Sonntag, 15. und 16. Juni, von 14 bis 19 Uhr geöffnet. Adressen unter offene-ateliers-starnberg.de.

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