Plötzlich war der Fischer Jakob Lidl aus Berg reich und konnte sich ein neues Häuschen leisten. In seinem Roman „Das Leben meiner Mutter“ beschreibt der Schriftsteller Oskar Maria Graf, dass das Gerede über Lidl im Dorf schon kurz nach dem Tod von König Ludwig II. am 13. Juni 1886 begonnen hatte. „Es hieß, Lidl habe als Schweigepreis vom Prinzregenten das schöne Fischerhaus geschenkt bekommen. Und er bestritt es nie“, schreibt Graf. Lidl hatte sich an dem Suchtrupp beteiligt und den toten König im Wasser gefunden.
Er hatte den Leichnam aber nicht zum Schloss Berg gebracht, sondern in seine Doppelbootshütte. Die Leute fragten sich nicht nur, warum der tote König erst stundenlang in der Hütte gelegen ist, sondern auch, warum die Hütte nur zwei Tage später abgerissen wurde. Wollte man Blutspuren verwischen, weil es Mord war? Warum blieb die Taschenuhr des Königs um 18.53 Uhr stehen, die Uhr des Nervenarztes Bernhard von Gudden, der mit ihm starb, jedoch erst um 20.06 Uhr. Das sind Rätsel über Rätsel, die bis heute nicht geklärt sind und die Gerüchteküche jedes Jahr zum Todestag Ludwigs erneut anheizen.
Die Autoren Rüdiger Liedtke und Jochen Reiss haben in ihrem Buch „111 Orte Ludwigs II., die man gesehen haben muss“ alle Todestheorien beschrieben. Im Kapitel zum Grab des Fischers Lidl beispielsweise ist nachzulesen, dass dort angeblich auch die Kladde vergraben sein soll, in der er aufgeschrieben hat, was wirklich in der Todesnacht geschehen ist. Wie es ihren Berufen entspricht, haben der Reisebuchautor Liedtke sowie der frühere Chefreporter und stellvertretende Chefredakteur der Abendzeitung Reiss die Geschichten, die um jeden der beschriebenen Orte kreisen, kurz und prägnant zusammengefasst. Jeder Ort wird auf einer Seite beschrieben. Die zweite Seite ist bebildert. Ferner sind Adressen, Anfahrtswege und Öffnungszeiten angegeben.
„Wir wollten ein Bild Ludwigs zeigen, das über die gängigen Klischees hinausgeht“, erklärt Reiss, der heute Journalisten aus- und weiterbildet, wenn er nicht gerade Bücher schreibt. „Er lebte sicherlich nicht in einer Traumwelt, aber er hat seine Träume gelebt.“
Unter den 111 Orten in Bayern, die die Autoren empfehlen, befinden sich neben den Ludwigs-Schlössern und Hütten, der Münchener Residenz oder dem Museum für Bayerische Könige auch 14 Plätze, die in der Region um den Starnberger See liegen. Die Beschreibungen sind detailliert, selbst kleine Örtlichkeiten werden aufgeführt, darunter der „Kini-Kreisel“ in Berg oder der Platz am Maisinger See, an dem Ludwig gerne angeln ging. Dort angelte er Hechte für sein Lieblingsgericht Hechtkraut – ein Pfannengericht aus Hechtfleisch, Sauerkraut und zerdrückten Kartoffeln.
Auch den Guglmännern ist ein Kapitel gewidmet: Sie hatten zu Pestzeiten die Toten begraben. Ihre schwarzen Roben und Henkerskapuzen sollten sie vor Ansteckung schützen. Laut der Verfassung des Königreichs Bayern sollten sie dem Trauerzug eines Monarchen voranschreiten. Heute sind die Guglmänner ein Geheimbund, der die wahren Todesumstände von Ludwig II. aufdecken will. Sie sind überzeugt davon, dass der König vom preußischen Geheimdienst ermordet worden ist, und treten jedes Jahr zum Todestag am 13. Juni vor der Votivkapelle am Starnberger See auf.
Ludwigs Leidenschaft für schöne Paläste, seine Exzentrik und Rückzugsorte werden im Buch sachlich und wertfrei beschrieben. Auf Gerüchte, Ratsch und Tratsch wird lediglich hingewiesen. Jeden Ort haben die Autoren persönlich besucht und dabei viele Geschichten hinter der eigentlichen Geschichte erfahren, die sie in die Texte einfließen ließen und die das Buch interessant machen. Das mache das Konzept der Buchreihe aus, die sich vorwiegend mit Städten befasst, aber auch mit Persönlichkeiten, wie der österreichischen Kaiserin Sisi und nun auch Ludwig II., erklärt Reiss. So kann man beispielsweise erfahren, dass Fischer Lidl die Gedichte, die sich der König und seine Seelenverwandte Elisabeth, Kaiserin von Österreich, gegenseitig schrieben, als „Postillon d’ Amour“ zur Roseninsel brachte.
Aber auch mit seinen Gefährten soll der König Tage und Nächte im Casino auf der Insel Wörth, wie die Roseninsel damals hieß, verbracht haben. „Es gehe das Gerede, Seine Majestät triebe mit Reitknechten unzüchtige Handlungen“, wurde damals das Bayerische Kabinett gewarnt. Die Autoren weisen aber auch darauf hin, dass Homosexualität in Bayern seit 1813 nicht mehr strafrechtlich relevant war. Allerdings sei die „widernatürliche Unzucht“ nach deutschem Recht ab 1871 wieder mit Gefängnis bestraft worden. Laut dem Autorenteam sind Ludwigs homoerotische Vorlieben zwar unstrittig. Ob er seine Veranlagung ausgelebt hat, ist nach ihren Angaben jedoch nicht bewiesen.
Der Freundschaft zwischen Ludwig und Sisi sind ebenfalls einige Kapitel gewidmet. Es wird Schloss Possenhofen beschrieben, auf dem Sisi in ihren Jugendjahren die Sommermonate verbrachte. Dort wurde sie von ihren Cousins Ludwig und Otto regelmäßig besucht. Als König kam Ludwig nur noch ein einziges Mal in Sisis geliebtes „Possi“ – nämlich um seine kurzzeitige Verlobte Sophie zu besuchen.
Vom „Hotel Kaiserin Elisabeth“, dem damaligen Hotel Strauch, wird berichtet, was Sisi gegessen hat, nachdem sie die Todesnachricht des Königs erhalten hatte. Es wird auch Sisis Angst vor Feuer thematisiert. Deshalb ist an der Rückseite des Zimmers 15, das Sisi stets bewohnt hat, eine Wendeltreppe aus Holz angebracht worden. Sie wurde vor wenigen Jahren wiedererrichtet als offizielle Brandschutztreppe aus verzinktem Stahl.
„111 Orte Ludwigs II., die man gesehen haben muss“ von Rüdiger Liedtke und Jochen Reiss ist im Emons Verlag Köln erschienen. 240 Seiten, 18 Euro. ISBN: 978-3-7408-2096-1.