Starnberg:Kluges Zapperfalle

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Altmeister und Kinochef: Alexander Kluge (rechts) zusammen mit dem Inhaber der Breitwand-Kinos, Matthias Helwig. (Foto: Georgine Treybal)

Der Regisseur zeigt in Starnberg seinen neuen Film, der bald im Fernsehen laufen wird und die Programmspringer locken soll. Jürgen Habermas spricht mit ihm über Utopien, und das Publikum staunt

Von Patrizia Steipe, Starnberg

Zwei Filme, so voller Symbole, Assoziationen und Interpretationsmöglichkeiten, dass sie ganze Dissertationen füllen könnten. Und doch sind es keine Filme, die für das elitäre Bildungsbürgertum gedreht wurden. Das Kulturforum und das Kino Breitwand zeigten in der Reihe "70 Jahre Frieden" Alexander Kluges Film aus dem Jahre 1967 "Die Artisten in der Zirkuskuppel - ratlos" und im Anschluss den neuen Streifen "Sag mir, wo die Blumen sind". Der 20-Minüter feierte in Starnberg Weltpremiere. Zugegeben, Blockbuster sind und werden beide nicht. Das Klatschen am Ende der Vorführung war ein wenig verhalten. Das könnte auch daran gelegen haben, dass die Zuschauer noch nicht aus dem Staunen herausgekommen waren, aus dem Staunen über das, was sie gerade gesehen hatten: bizarre Bilder, völlig verrückt aneinander gereiht. Genres, Blickwinkel und Szenen, verschiedene Epochen, Erzählebenen, Stilmittel, die scheinbar willkürlich aus ihrem Originalfilmmaterial herausgelöst worden waren und durch Kluges Montage zu einem neuen Gesamtwerk geworden sind, obwohl sie eigentlich überhaupt nicht zusammenzupassen schienen.

Kluge hat in seinem neuen Werk Hannelore Hoger als "Ausgräberin" über die Leinwand geschickt. Hoger, die als junge Schauspielerin die Hauptrolle in den "Artisten" hatte. Es ist eine attraktiv gealterte, staunende Hoger, die mal einen gerundeten Stein bewundert, dann wieder durch eine fast blinde Fensterscheibe blickt, hinter der Filmsequenzen auftauchen: Weltkriegsszenen, die IS-Kulturschänder, der G-7-Gipfel - dazu die melancholischen Klänge des Antikriegslieds "Sag mir, wo die Blumen sind". Die innere Regie, der die Bilder folgen, ist dem Publikum nicht bekannt. Es gibt keinen Text, keine Kommentare. Im Gegensatz zum "Artisten"-Film, dessen Versatzstücke häufig mit sich mantraartig wiederholenden Sinnsprüchen und Wortfetzen unterlegt waren.

Obwohl zwischen dem preisgekrönten "Die Artisten in der Zirkuskuppel" vom damaligen jungen Vertreter des Neuen Deutschen Films und dem jüngsten Werk des längst zum Altmeister der Filmtheorie gewordenen 83-Jährigen fast 50 Jahre liegen, wirken beide gleichermaßen frisch, experimentell, gewagt und völlig anders.

Nach dem Film ist es Jürgen Habermas, Philosoph und Soziologe, der sich als erstes zu Wort meldet. "Ein wunderschöner Film, ganz der alte Kluge", lobt er. Dann folgt ein philosophisches Zwiegespräch der beiden, bei dem der Großteil des Publikums bald den Faden verloren hat. Es geht um den altgriechischen Optativ mit seinen verschiedenen Möglichkeitsformen und dessen szenischer Umsetzung, um Utopien, die Kraft, sich unendlich Mühe zu geben; Theodor W. Adorno, Friedrich Nietzsche, Niklas Luhmann, Walter Benjamin werden zitiert. Auch wenn vielen der Kinobesucher die theoretischen Grundlagen für das Verständnis fehlen mögen, hören sie dem Gespräch des 86- und des 83-Jährigen ehrfürchtig zu. Der Leidenschaft und Verve, mit der Kluge seine Theorien und Werte verteidigt - was könnte man dem auch Adäquates entgegensetzen? Schriftsteller Gert Heidenreich versucht sich an einem Vergleich. Das Fehlen der Phrasen und Zitate in "Sag mir, wo die Blumen sind" sei "vielleicht ein besserer Weg". Der fragende Blick Hogners würde als "Projektion der Utopiefrage auf uns selbst" ausreichen. Seinen neuen Film wird Kluge übrigens im Fernsehen zeigen. Und er ist sich sicher, dass er "laufen" wird. Kluge hat die Medien-Mechanismen genau studiert und nutzt sie für seine Zwecke. Seine Filme nennt er "Zapperfallen". Die Reichweitenforschung gibt ihm Recht. Kluges Sendeplatz ist meist spät nachts. 1,6 Millionen Zuschauer zwischen 14 und 49 Jahren habe er schon erreicht, so Kluge. "Die meisten sind um die 20." Die Rezipienten bleiben angesichts des Neuen, des Fremdartigen beim Herumzappen einfach hängen. Sie mögen das Unbekannte und "erahnen im Unterbewusstsein die Qualität", sagt Kluge, der alte "Poet" und "Metaphernverfasser".

© SZ vom 30.06.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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