Landkreis Starnberg:Anträge auf Unterstützung bleiben im Jobcenter liegen

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Vor der Corona-Krise musste das Starnberger Jobcenter etwa 80 Hilfsanträge pro Monat bearbeiten, nun kommen jede Woche so viele. (Foto: Nila Thiel)

In der Corona-Krise wächst die Armut und der Behörde fehlen Mitarbeiter. In Not geratene Menschen müssen deswegen um ihre Wohnung fürchten.

Von Astrid Becker, Starnberg

Der Fall ist dringend. Ein Ehepaar, sie schwer krank, er Frührentner, kann seine Miete nicht mehr bezahlen. Und zudem müssen sie damit rechnen, dass ihnen buchstäblich das Gas abgedreht wird, mit dem sie ihre Wohnung beheizen, mit dem sie kochen. Fast 1000 Euro sind sie bei dem Energieversorger im Rückstand. Das Paar weiß nicht mehr weiter, es hat Angst, die Wohnung zu verlieren, auf der Straße zu landen. Jörg Neumann sind solche Fälle mehr als vertraut: Der Sozialpädagoge arbeitet für die Fachberatungsstelle zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit im Landkreis Starnberg, die bei der Caritas angesiedelt ist. Neumann ist sich sicher, dass hier staatliche Hilfen gewährt werden könnten. Doch dafür müssen Anträge beim Jobcenter gestellt werden - aber das ist hoffnungslos überlastet.

Gerhart Schindler, der Geschäftsführer des Jobcenters in Starnberg, gibt dies auch unumwunden zu: "Ja", sagt er, "bei uns bleibt mittlerweile so einiges liegen." Schindler ist seit 1991 beim Landratsamt Starnberg, zunächst im Sozialamt und in der Heimaufsicht, dann als Geschäftsführer der Starnberger Arbeitsgemeinschaft zur Grundsicherung für Arbeitssuchende und noch bis Ende des Jahres als Chef des Jobcenters. Danach hört er auf. Und wenn man ihm zuhört, ist zu spüren, dass ihm die derzeitige Lage große Sorgen bereitet: "Vor Corona haben wir etwa 80 Anträge pro Monat bearbeiten müssen, jetzt sind es 80 in der Woche."

Auf seine Personalsituation angesprochen, legt er Wert darauf, dies genau zu differenzieren. Denn eigentlich sei er mit etwa 50 Mitarbeitern gut ausgestattet. Allein in der Leistungsabteilung, die etwa für die Bewilligung von Hilfen zuständig ist, habe er zwölf Sachbearbeiter. Dafür sei er der Trägerversammlung - einer Art Aufsichtsrat, bestehend aus drei Vertretern des Landkreises und drei Vertretern der Arbeitsagentur - auch dankbar. Den Stellenplan jedoch gebe es nur auf dem Papier, sagt er. In der Realität seien es jedoch derzeit gerade einmal neun Beschäftigte, die sich um die Leistungsanträge kümmern könnten.

Der Grund für den gravierenden Unterschied zwischen Theorie und Praxis sind einerseits Mitarbeiter, die schon seit langem in Krankenstand seien: "Zum Beispiel ist einer der Beschäftigten seit eineinhalb Jahren krank, ich muss aber seine Stelle freihalten - klar", sagt er. Dazu kämen die vorgeschriebenen Urlaubszeiten und vor allem Stellen, die er gar nicht besetzen könne: "Wir finden keine dafür qualifizierten Leute." Und wenn dann doch einmal jemand anfange, müsse dieser meist monatelang eingearbeitet werden: "Das Sozialgesetz ist sehr kompliziert - und wir dürfen keine Fehler machen."

Der Caritas-Berater macht der Behörde keine Vorwürfe. Druck muss er trotzdem aufbauen

Er hofft nun auf einen neuen Mitarbeiter vom 1. Januar an - und auf seinen Nachfolger, der dann ebenfalls seinen Dienst antreten wird: "Ein Profi von der Arbeitsagentur." Den Namen verrät er nicht. Aber, dass auch er es nicht einfach haben wird. Die Pandemie, ihre wirtschaftlichen Konsequenzen und die damit verbundenen tragischen Schicksale seien damit ja nicht vorbei: "Das geht vermutlich erst dann richtig los - und meine Mitarbeiter hier sind schon jetzt am Limit."

Jörg Neumann, der seine damals neu geschaffene Stelle zur Prävention von Wohnungslosigkeit erst im vergangenen Dezember antreten hat, ist die personelle Situation beim Jobcenter absolut bewusst: "Ich kann da niemandem einen Vorwurf machen." Aber Druck müsse er dennoch aufbauen - zum Wohle seiner "Klienten", wie er die Menschen nennt, die sich Hilfe suchend an ihn wenden. Wie der Frührentner und seine schwer kranke Frau.

Für sie muss er nun eine Lösung finden. Zwei probate Mittel wird er dabei mit Sicherheit anwenden: mit dem Vermieter und dem Energieversorger um Aufschub verhandeln - und dem Jobcenter mit dem Sozialgericht drohen. "Wenn ich das mache, geht es meistens schneller." Gern wendet er solche Methoden aber nicht an: "Ich weiß ja, dass die Mitarbeiter dort völlig überlastet sind."

© SZ vom 16.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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