Mit dem Erinnern ist das so eine Sache, auf individueller wie kollektiver Ebene. Wen behalten wir eher im Kopf – die kurze Bekanntschaft von der Party oder die große Liebe, mit der es nichts geworden ist? Warum trügt uns manche Erinnerung im Nachhinein? Und warum ist da manchmal nur noch ein Erinnerungsfetzen vom letzten Urlaub, während die Freunde, die mit dabei waren, jedes Detail rekapitulieren können? Über die Frage, wie unser Gedächtnis funktioniert, haben sich Wissenschaftler und Theoretiker die Köpfe zerbrochen, ohne zu einer eindeutigen Antwort zu kommen.
Gleiches gilt für die kollektive Erinnerung. Jede Gesellschaft hat sie, und gemeinsam Erlebtes verbindet, das ist klar. Die Wiedervereinigung 1990, das Sommermärchen 2006, und ja, auch die Corona-Pandemie – all das sind historische Ereignisse, die die meisten von uns miterlebt haben und die für jeden von uns einen Teil seiner Identität ausmachen. Wie wir diese Ereignisse wahrgenommen haben, hängt immer auch davon ab, wie wir im Kollektiv darauf zurückblicken – und ob die Erinnerung daran überhaupt am Leben gehalten wird, durch Denkmäler, Gedenkorte, Medienbeiträge. Gibt es all das nicht, verblasst die Erinnerung. Das Ereignis oder die historische Person verschwindet aus dem kollektiven Gedächtnis.
All das hat der französische Historiker Pierre Nora um 1980 in seinem Konzept der „lieux de mémoire“ festgehalten. Darin definiert Nora als Erinnerungsort jede Form, durch die Erinnerung manifestiert wird. Es muss sich also nicht zwingend um Orte im physischen Sinne handeln. Einzige Voraussetzung dafür sei ein „materielle[r], funktionale[r] oder symbolische[r] Wert“, schreibt Nora. Das können Feiertage sein. Oder Museen.
Oder Gräber.
In Starnberg stand man am Montagabend vor einer schwierigen Entscheidung. Seit dem Tod der Schriftstellerin Ina Seidel 1974 hat die Stadt die Kosten für das Ehrengrab ihrer einstigen Ehrenbürgerin übernommen. Am 6. Oktober aber endet das Nutzungsrecht, eine Verlängerung für die nächsten zehn Jahre wäre möglich.

Aber will man das? Seidel war in den 1930er-Jahren eine anerkannte Schriftstellerin, ihr Roman „Das Wunschkind“ hat sich hunderttausendfach verkauft. Seidel war zweifelsohne eine begabte Lyrikerin. Aber eben auch eine fanatische Unterstützerin des nationalsozialistischen Regimes. Nach einem Treueschwur auf die neuen Machthaber nahm sie Adolf Hitler persönlich 1944 in den Kreis der 88 Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf der sogenannten „Gottbegnadeten-Liste“ auf. Seidel revanchierte sich dafür mit treuer Gefolgschaft und Versen wie diesem:
„Vaterland! Für dich erglühe / Unsrer jungen Herzen Glaube, / Dass er dir als Schönheit blühe!“
Soll man die Erinnerung an Literatinnen am Leben erhalten, die in einem diktatorischen Regime solche Zeilen widmen? Seidel wird inzwischen kaum noch rezitiert, ihre Bedeutung geht heute gegen null. Gleichzeitig war sie nie eine führende Figur des NS-Regimes, aus deren Schaffen man vielleicht Lehren für die Gegenwart ziehen könnte. Seidel war, das hat auch eine wissenschaftliche Aufarbeitung im Auftrag der Stadt Braunschweig ergeben, nicht viel mehr als eine von vielen. Eine frenetische Anhängerin der Nazis, die mit ihren Schriften ein größeres Publikum erreichte als andere Unterstützer. Aber viel mehr als eine der vielen Mitläuferinnen war Seidel wohl auch nicht.
Die Stadt setzt ein Zeichen
Die Stadt Starnberg hat deshalb eine Entscheidung getroffen: Das Ehrengrab wird nicht weiter von der öffentlichen Hand finanziert. Damit setzt die Stadt ein Zeichen: Die einstige Ehrenbürgerin, „die nicht unumstritten war“, wie Bürgermeister Patrick Janik erklärte, verliert an Bedeutung für das kollektive Gedächtnis der Stadtgesellschaft.
Landauf, landab stehen Kommunen vor solchen Fragen. In kaum einem Ort gibt es nicht eine Straße, über die nicht diskutiert wird, weil ihr Namensgeber historisch vorbelastet ist. Auch über Ina Seidel wurde in diesem Kontext bereits diskutiert: Damals entschied man sich, den „Ina-Seidel-Weg“ nicht umzubenennen, sondern mit einer Hinweistafel zu versehen, die ihre Rolle während der NS-Zeit erzählt. Auch in Stockdorf gab es Debatten über die Ina-Seidel-Straße.
Solche Tafeln sind ein Mittel, um die Historie einzuordnen. Aber ginge man nach Pierre Nora, müsste man wohl die Frage stellen, ob eine Kommune nicht lieber an andere Personen erinnern will.