Gilching„Pflege ist ein Knochenjob“

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In einer Tagespflege übernehmen Betreuer die Pflege. Die Angehörigen haben Pause.
In einer Tagespflege übernehmen Betreuer die Pflege. Die Angehörigen haben Pause. (Foto: Bernd Thissen/dpa)

Etwa 5200 Menschen im Landkreis sind pflegebedürftig, die meisten werden zu Hause betreut. Tagespflegen können Angehörige entlasten, doch es fehlen Plätze. Gefordert wird nun ein stärkeres,  gemeinschaftliches Engagement.

Von Patrizia Steipe, Starnberg

In der Früh werden sie gebracht und von den Betreuern herzlich in Empfang und manchmal, je nach Bedürfnis, sogar in den Arm genommen. Dann wird erst einmal ausgiebig gefrühstückt. Auf die frischen Semmeln freuen sich die meisten besonders. Wer mag, kann anschließend basteln, malen oder bei gutem Wetter in den Garten gehen. Nach dem Mittagessen folgt der Nachmittagsschlaf – für alle, die möchten. Was klingt wie der Ablauf in einer Kindertagesstätte, ist der Alltag in der Tagespflege. Natürlich sind Senioren keine Kleinkinder. Doch in der Struktur, dem liebevollen Miteinander und der Bedeutung einer Tagespflege für Angehörige gibt es viele Parallelen.

Während Kitas positiv besetzt sind, ruft das Thema Tagespflege oft Abwehr hervor. „Da will ich nicht hin!“, lautet häufig die erste Reaktion, wenn Angehörige das Angebot machen. So war es auch bei der Mutter von Bettina Richter, Vorsitzende der Pflegekonferenz Starnberg. Es ist ein Verbund der Stadt Starnberg und den Gemeinden Gilching, Gauting, Tutzing, Pöcking, Wörthsee und Seefeld, der sich um die Vernetzung aller Einrichtungen und Personen, die mit Pflege befasst sind, kümmert. Richter erzählte im Rahmen der Aktionswoche Pflege im Gilchinger Rathaussaal über die schwierige Zeit.

Bettina Richters Mutter weigerte sich strikt, in eine Tagespflege zu gehen. Für ihre Tochter und die Familie war die Pflege eine extreme Belastung. „Pflege ist ein Knochenjob“, sagt Richter. Die berufstätigen Angehörigen kamen an ihre Grenzen. Und Richter weiß: So wie ihr geht es vielen Betroffenen. Ihre Generation – die der Babyboomer – setzt das System in den nächsten Jahrzehnten zusätzlich unter Druck. „Wir waren immer zu viele“, sagt sie. In der Schule saß sie in überfüllten Klassenzimmern, es gab zu wenig Ausbildungs- und Studienplätze, und es ist absehbar, dass sich die Babyboomer auch in den Pflegeeinrichtungen drängen werden und die häusliche Pflege weiter zunehmen wird. Denn es sind nicht nur viele, sie werden auch immer älter und entsprechend pflegebedürftiger, so Richter. Der demografische Wandel trifft die Region besonders hart. „Bei den Babyboomern gibt es eine extreme Spitze“, erklärt Richter. „Der Landkreis steht vor einem Wendepunkt. Es kommen zu wenige Junge nach. Von jetzt an pflegen wenige sehr viele.“

Derzeit werden 76 Prozent der 5200 offiziell als pflegebedürftig geltenden Menschen im Landkreis zu Hause gepflegt, die Hälfte durch Angehörige, der Rest durch ambulante Pflegedienste. An dieser Stelle taucht das nächste Problem auf: Nachbarschaftshilfen im Landkreis, und auch eine Tagespflege, mussten ihre Pflegedienste in den vergangenen Jahren bereits aus personellen oder finanziellen Gründen aufgeben. Derzeit gibt es nur zehn Tagespflegen mit insgesamt 150 Plätzen im Landkreis. Einige führen Wartelisten. Im Herbst kommt eine elfte in Andechs dazu. Viel zu wenig, findet Richter und deutet auf der Landkreiskarte auf große Flächen ohne ein solches Angebot. Der stellvertretende Landrat Matthias Vilsmayer (FW) betonte zum Auftakt der Pflegewoche: „Tagespflege ist mehr als eine Dienstleistung, es ist ein Ausdruck der Menschlichkeit“. Doch Menschlichkeit allein reicht nicht, wenn es an Kapazitäten fehlt.

Simona Dorn, Matthias Vilsmayer, Bettina Richter, Monika Keck, Annette Schubert und Markus Effert (von links) bei der Eröffnung der Pflegewoche im Gilchinger Rathaus.
Simona Dorn, Matthias Vilsmayer, Bettina Richter, Monika Keck, Annette Schubert und Markus Effert (von links) bei der Eröffnung der Pflegewoche im Gilchinger Rathaus. (Foto: Georgine Treybal)

Das soll sich ändern. „Es ist Zeit, selbst etwas zu unternehmen“, forderte Richter. Denn der Staat könne eine so große Gemeinschaftsaufgabe nicht allein schultern. Deswegen ruft sie zum Handeln auf – auch jenseits staatlicher Stellen. „Wie wäre es, Fördervereine wie in Kitas zu gründen?“ Richter sieht viele engagierte Ruheständler, die mit wirtschaftlichem Know-how helfen könnten. Benefizkonzerte, Sponsoring – es gibt viele Ideen, um Gelder zu generieren und so die Existenz von Tagespflegeeinrichtungen zu sichern. Die Pflegekonferenz möchte Tagespflegen mit Veranstaltungen wie der „Aktionswoche Pflege“ sichtbarer machen und Berührungsängste abbauen.

„Das Wort Tagespflege klingt in der Tat abschreckend“, gab Simona Dorn zu. Sie leitet seit 2020 eine Tagespflege in Percha. „Ich spreche lieber von Seniorentreff“, erklärte sie. Wer kommt, der sei ein „Gast“. In einem kleinen Film bekamen die Besucher der Aktionswoche einen Einblick in den Alltag: Senioren, die miteinander basteln, Brettspiele machen, essen und feiern. „Keiner muss, wenn er nicht möchte“, die Eigenständigkeit wird geachtet, sagte Dorn.

Sissi Gerlach und Petra Grabmaier (von links) von der Nachbarschaftshilfe Wörthsee zeigen alte Illustrierte und typisches Geschirr wie einen zitronengelben Melitta-Filter aus Porzellan aus den 50er-Jahren. Mit solchen Gegenständen aus der Kindheit werde „Biografiearbeit“ gemacht.
Sissi Gerlach und Petra Grabmaier (von links) von der Nachbarschaftshilfe Wörthsee zeigen alte Illustrierte und typisches Geschirr wie einen zitronengelben Melitta-Filter aus Porzellan aus den 50er-Jahren. Mit solchen Gegenständen aus der Kindheit werde „Biografiearbeit“ gemacht. (Foto: Georgine Treybal)

Am Stand der Nachbarschaftshilfe Wörthsee zeigten Petra Grabmeier und Sissi Gerlach alte Illustrierte und typisches Geschirr, wie den zitronengelben Melitta-Filter aus Porzellan aus den 50er-Jahren. Mit solchen Gegenständen aus der Kindheit wird „Biografiearbeit“ gemacht. Eine weitere Aktivität ist das gemeinsame Kochen. An diesem Tag gab es Gnocchi-Gemüseauflauf und Schokoladenkuchen. Im Sommer wird auf der Terrasse gegrillt. Wer einen Pflegegrad hat, der bekommt die Gebühren meist von den Pflegekassen erstattet.

Fast alle Tagespflegen bieten Schnuppertage an. Viele sind danach positiv überrascht: „Bei uns haben sich schon ehemalige Schulfreunde wiedergetroffen“, erinnert sich Grabmeier. „Die Gäste genießen den Tag – und die Angehörigen eine Pause“, ergänzte Gerlach. „Abschieben“ – das ist ein Wort, das Angehörige oft aus schlechtem Gewissen nutzen. Doch die Tagespflege sei kein Abschieben, so Richter, sondern ein Ort, der einen geregelten Tagesablauf, Nähe und Ansprache ermöglicht. Für viele ist das mehr als das, was sie zu Hause erleben.

Die Pflegekonferenz mit dem Pflegestützpunkt ist telefonisch unter 08151-77480 erreichbar, per E-Mail unter pflekosta@lra-starnberg.de

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