Nach mehr als 100 Jahren kehren Gabriele Münter und Wassily Kandinsky noch einmal an der Starnberger See zurück. Marcus O. Rosenmüllers Film „Münter & Kandinsky“ über deren höchst komplizierte Liebesgeschichte wird vor dem Kinostart im Oktober auf dem Fünfseen-Filmfestival laufen. Das Drehbuch von Alice Brauner stützt sich auf Dokumente, Tagebucheinträge und Briefe, viele Dialoge setzen sich aus Originalzitaten zusammen.
Am Ende aber reduziert das Kinoformat die Beziehung des Künstlerpaars auf das übliche Klischee: Ein erfolgreicher Mann tauscht die kluge Frau an seiner Seite gegen eine andere aus, die weniger anstrengend, dafür aber deutlich jünger ist. Die Wirklichkeit war wohl wesentlich vielschichtiger.
Was der Film nicht erzählt: Wassily Kandinsky liebte den Starnberger See und kam in seinen frühen Münchner Jahren immer wieder zum Malen hierher. Im Münchner Lenbachhaus ist derzeit seine Ölskizze mit dem Titel „Bei Starnberg“ ausgestellt, die bei einem Malaufenthalt um die Jahreswende 1901/1902 entstanden ist. Sie zeigt einen Bauernhof zwischen Hügeln und verschneiten Feldern und wurde später zu dem Gemälde „Winterdämmerung“ weiterentwickelt.
Auch die Bootshäuser an der Starnberger Seepromenade malte Kandinsky bei diesem Aufenthalt. Einmal mietete er sich sogar mehrere Wochen in Starnberg ein. Und als er und Münter 1908 beschlossen, ihr unstetes Wanderleben zu beenden und sich im Münchner Umland niederzulassen, setzten sie sich in den Zug – und fuhren zunächst nach Starnberg. Warum sie nicht geblieben sind, darüber kann freilich nur noch spekuliert werden.
Aber von Anfang an: Gabriele Münter, 1877 in Berlin geboren und in Koblenz aufgewachsen, war im Jahr 1901 nach München gekommen. Zuvor war sie mit ihrer Schwester zwei Jahre lang durch die USA gereist und hatte auf dieser Reise mit dem Fotografieren begonnen. Nun wollte sie Malerin werden und schrieb sich, da Frauen ein Studium an der Kunstakademie nicht erlaubt war, in der Schule des Künstlerinnen-Vereins ein. Im Jahr darauf wechselte sie in die Phalanx-Kunstschule. Dort belegte sie einen Bildhauerkurs bei Wilhelm Hüsgen, der den „Abendakt“ in der Malklasse eines gewissen Wassily Kandinsky einschloss.
Kandinsky, zu diesem Zeitpunkt 36 Jahre alt, hatte als Spross einer wohlhabenden russischen Teehändlerfamilie in seiner Heimatstadt Moskau ein Jurastudium absolviert und „Über die Gesetzmäßigkeit der Arbeiterlöhne“ promoviert. 1896 war seine Entscheidung gegen eine juristische Karriere und für die Malerei gefallen. Er ging nach München, besuchte zunächst die private Kunstschule von Anton Azbè, wo er seine Landsleute Marianne von Werefkin und Alexej Jawlensky kennenlernte. Ab 1900 hatte er an der Kunstakademie München bei Franz von Stuck studiert. Bereits ein Jahr später war er Mitbegründer der Künstlervereinigung „Phalanx“ und bald darauf Lehrer in der gleichnamigen privaten Malschule.
Kurz und gut: Lehrer und Schülerin verliebten sich wohl sehr schnell ineinander. Doch die Sache war kompliziert, denn Kandinsky war verheiratet. Unglücklich verheiratet, versicherte er ihr. Und das war wohl schon damals nicht besonders originell. Münter wies ihn jedenfalls zunächst zurück, kam aber dann doch mit, als Kandinsky mit seinen Schülerinnen mehrere Wochen Malferien in Kochel machte.
Als sich Kandinskys Ehefrau Anja Tschimiakin Ende August zum Besuch in Kochel ankündigte, bat Kandinsky Münter, ihren Aufenthalt vorzeitig abzubrechen. Sie reiste ab und fuhr zu ihren Geschwistern nach Bonn. Man darf wohl behaupten, dass Gabriele Münter zu ihrer Zeit eine ausgesprochen moderne Frau war, die sich – unkonventionell und ungewöhnlich genug – für den Künstlerberuf entschieden hatte. Die Heimlichkeiten vor Kandinskys Frau aber wollte sie nicht akzeptieren. Sie verlangte eine Entscheidung.
Schwierig aber war nicht sie, sondern Kandinsky. Jahrelang lebte er wie auf der Flucht. So fuhr er etwa im Frühjahr 1905, gerade von einer langen Reise nach Holland, Tunis und Italien zurück, nach Starnberg, von dort über die Ostertage weiter nach Innsbruck. Dort verzehrte er sich nach Münter. Er schrieb ihr ein Brieflein und kündigte seine Ankunft an. Dann aber fiel ihm ein, dass ihn wohl auch Anja am Münchner Hauptbahnhof erwarten und einem leidenschaftlichen Wiedersehen im Wege stehen würde. Er studierte also die Fahrpläne, setzte sich noch einmal hin und bestellte schließlich sein „Ellchen“, wie er Münter zärtlich nannte, zu einem Stelldichein nach Starnberg.
Sie ertrug seine Gemütszustände mit erstaunlicher Gelassenheit
Sie sollte mit einem Zug am Nachmittag nach Starnberg fahren und dort auf ihn warten, er würde einen früheren Zug aus Innsbruck nehmen und ebenfalls in Starnberg aussteigen: „Du trinkst dort Thee, zeichnest, die 1 ¾ Stunden vergehen unbemerkt… und dann haben wir volle 3 Stunden für uns“, schrieb er ihr und gab minutiös Abfahrts- und Ankunftszeiten der jeweiligen Züge durch. Und weiter: „Ich hoffe sehr, dass ich beim Aussteigen in Starnberg dich am Perron stehen sehe. Ich nehme mir dann rasch ein Zimmer und wir essen und spazieren zusammen bis 9 Uhr. Machst du das für deinen verrückten zerquälten Was?“ Man darf davon ausgehen, dass Münter ihrem verrückten Zerquälten auch diesen Wunsch erfüllte, wie sie überhaupt seine zerrütteten Seelenzustände in dieser Zeit mit erstaunlicher Geduld ertrug.
War er bei Münter, wollte er schnellstmöglich weg, setzte sich aufs Fahrrad, fuhr nach Seeshaupt und am nächsten Tag trotz schlechten Wetters weiter nach Tutzing und Herrsching. Auf dem Rückweg übernachtete er noch einmal in Starnberg, nun schon wieder voller Sehnsucht. Er schickte eine Karte an Münter, freute sich auf das Wiedersehen. Dann fuhren sie gemeinsam in die Berge, und weiter nach Brüssel und Mailand, es folgten längere Aufenthalte in Paris und Berlin und so fort. Dazwischen war Kandinsky wieder zum Malen am Starnberger See und gleich darauf ging es zu einem Wanderurlaub in die Südtiroler Täler. „Ich verzichtete auf das, was in meinen Augen Leben, Heim gewesen wäre“, schrieb Münter viele Jahre später über diese Zeit. „Das Leben war zu provisorisch, um befriedigend zu sein – ich konnte es nicht ändern und beschied mich damit ihm zuliebe, weil er litt.“
Am 17. Juni 1908 aber brach das Malerpaar auf, um sich endlich eine feste Bleibe auf dem Land zu suchen. Ihre erste Station war Starnberg. Aus dem verschlafenen Fischerdorf war jedoch innerhalb weniger Jahre ein mondäner Kurort geworden. Man kann sich denken, dass die beiden verschreckt vom Trubel das Weite suchten. Schließlich kamen sie gerade aus der Einsamkeit der Südtiroler Berge. Sie stiegen also wieder in den Zug, fuhren weiter nach Murnau – und fanden dort genau die ländliche und unverfälschte Idylle, nach der sie sich sehnten.
In Murnau findet das Künstlerpaar zu einer neuartigen Malerei
Begeistert erzählten sie nach der Rückkehr den Münchner Freunden von ihrer Entdeckung. Und schon wenige Wochen später mieteten sich Werefkin und Jawlensky, Münter und Kandinsky im Murnauer Griesbräu ein. In diesen Augustwochen fanden sie zu der völlig neuartigen Malerei, mit der sie bald darauf die Kunstgeschichte aus den Angeln heben sollten: Es entstanden intensive und subjektive, „gefühlte“ Bilder in leuchtenden Farben.
Im selben Jahr kam Kandinsky aber mindestens noch einmal zum Malen nach Starnberg, denn im Werkverzeichnis ist ein weiteres dort entstandenes Gemälde belegt. Es ist zu vermuten, dass er bei diesem Aufenthalt doch auch noch einmal nach einem Haus Ausschau hielt. Denn er schrieb an Münter, die wieder einmal in Bonn auf ihn wartete: „Liebes Ellchen, hörst dann auch von Starnberg…“ Leider haben sich aus dieser Zeit keine Briefe von Gabriele Münter erhalten, sodass man nicht weiß, was sie über Starnberg hörte und wie sie darauf reagierte. Und 1909, als die beiden ihr Traumhaus in Murnau fanden, entschieden sich die Dinge ohnehin endgültig gegen Starnberg.
Der Film „Münter & Kandinsky“ läuft am Mittwoch, 4 September,. um 17 Uhr in Gauting und um 20 Uhr in Starnberg, am Freitag, 6. September, um 20 Uhr in Weßling und noch einmal am Donnerstag, 12.September, um 17 Uhr in Gauting.