Coronavirus in der Schwangerschaft:Geboren unter tausend Ängsten

Coronavirus in der Schwangerschaft: "Dieses Baby hat mir alle Ängste genommen", sagt Stephanie Bien über Tochter Ida. Auch ihr Mann Florian war krank, Sohn Franz hatte keine Symptome.

"Dieses Baby hat mir alle Ängste genommen", sagt Stephanie Bien über Tochter Ida. Auch ihr Mann Florian war krank, Sohn Franz hatte keine Symptome.

(Foto: Arlet Ulfers)

Stephanie Bien war die erste Infizierte, die im Starnberger Klinikum ihr Kind auf die Welt brachte - in einer Zeit, in der noch niemand wusste, wie gefährlich der Erreger wirklich ist. Heute ist Tochter Ida neun Monate alt.

Von Jessica Schober

Kurz vor Idas Ankunft ist es noch dunkel und warm um sie herum. Ein rhythmisches Klopfen dröhnt in ihren Ohren, Mamas Herzschlag. Sie bewegt sich fast schwerelos im Fruchtwasser. Sie wiegt 3890 Gramm, als sie sich auf den Weg macht, um unbekanntes Terrain zu erkunden. Und dann ist plötzlich alles in grelles Licht getaucht. Zwei Hände in Gummihandschuhen heben Ida aus der Wärme heraus. Sie schreit.

"Sie wird meinen, sie sei gerade auf dem Mars gelandet, so wie hier alle aussehen", denkt sich ihre Mutter hinter dem Vorhang. Um sie herum tragen alle Schutzkleidung, Masken und Plastikvisiere. Kein menschliches Gesicht ist zu sehen. Noch zwei Wochen wird es dauern, bis Idas Mutter den Mundschutz abnehmen darf, bis sie ihr Kind küssen darf. Auf einem sonderbaren Planeten ist Ida da gelandet. In einer schlagartig veränderten Welt, als wohl eines der ersten Babys einer Corona-infizierten Mutter in Deutschland.

Es ist der 19. März und in Deutschland herrscht Ausnahmezustand. Das Leben draußen wird komplett zurückgefahren, während sich das Leben bei Familie Bien auf den Weg in die Welt macht. Drei Tage vor ihrem errechneten Geburtstermin soll Ida geholt werden. Ihr Vater hat sich mit dem Coronavirus angesteckt, von dem noch keiner genau weiß, was es ist. Ihre Mutter wird am Tag nach der Geburt das positive Testergebnis bekommen. Wie Idas Eltern sich infiziert haben, wird ein Rätsel bleiben.

Die Familie lebt in Stockdorf, jenem Ort, in dem die Corona-Pandemie in Deutschland ihren Anfang nahm mit dem Ausbruch in der Zentrale des Autozulieferers Webasto. Bis zu diesem Tag haben sich im Landkreis Starnberg erst 66 Menschen angesteckt. Für die Schwangere beginnen bange Stunden, in denen sie nicht weiß, ob sie eine von den Infizierten ist - und wie sie dann ihr Kind bekommen soll.

Vater Florian bekommt 41,5 Grad Fieber

Idas Mutter, Stephanie Bien, ist in der 40. Schwangerschaftswoche, als ihr Mann Florian Mitte März plötzlich Fieber bekommt. "Das ist komisch, ich habe sonst nie Fieber", sagt er und will sich testen lassen. Doch zunächst findet sich kein Arzt. Vater Bien war in keinem Risikogebiet und hatte keinen Kontakt zu einem Infizierten, von dem er wüsste. Das sind damals die Kriterien, um überhaupt einen Test zu bekommen.

Florian Bien arbeitet in München und fährt täglich mit der S-Bahn in die Stadt. Seine Frau hatte sich seit Wochen zurückgezogen, um sich und ihr Ungeborenes zu schützen. Doch dann steigt das Fieber des Vaters auf 41,5 Grad. Stephanie Bien ist kurz davor, einen Notarzt zu rufen. Endlich kann ein Corona-Test gemacht werden. Das Ergebnis ist ein Riesenschock: Ihr Mann ist positiv.

Die Hochschwangere steht jetzt unter Quarantäne. Ihr Mann durchlebt einen schweren Krankheitsverlauf - sie hat keine Symptome, aber bislang auch kein Testergebnis. Sie hat Monate der Übelkeit hinter sich, die zweite Schwangerschaft in ihrem Leben war hart. Sie wird schier krank vor Sorge um ihr Baby, ihren Mann und um ihren zweijährigen Sohn Franz, der zu Hause von niemand anderem betreut werden kann.

Ihr Mann kann daheim keine zwei Schritte gehen, ohne einen Schweißausbruch zu bekommen. Als Stephanie Bien im Krankenhaus anruft, ist gerade erst der sogenannte Covid-Kreißsaal für infizierte Schwangere hergerichtet worden. Sie gilt zunächst als Verdachtsfall. "Sie klingen verschnupft", sagt die Ärztin am Telefon, Bien zögert.

Die Gefahr lauert am Ende der Geburt, wenn die Luft fehlen könnte, um das Kind auf die Welt zu pressen

Den Medizinern ist das Risiko zu groß. Wenn Stephanie Bien sich bei ihrem Mann angesteckt hat, könnte ihr unter der Geburt der Atem versagen, ihre Lungen könnten kollabieren, ihr könnte schlicht die Puste ausgehen, um die Wehen zu veratmen. Corona geht auf die Lunge, der Atem ist das Werkzeug aller Gebärenden. Die Gefahr lauert am Ende der Geburt, wenn die Luft fehlen könnte, um das Kind auf die Welt zu pressen. Deshalb: Kaiserschnitt. Keine Diskussionen. "Wie viele Stunden brauchen Sie?", fragen die Ärzte des Klinikums Starnbergs am Telefon. Stephanie Bien wirft hastig eine bunte Strickdecke in die Kliniktasche. Sie hat Angst, sie will keinen Kaiserschnitt, es ist alles ein bisschen viel, sagt sie später, und dabei ist das eine große Untertreibung.

Florian Bien und Sohn Franz begleiten sie noch zum Klinikum, dann drehen sie um. Die einsame Hochschwangere steht unschlüssig vor dem Eingang der Notaufnahme. Sie hatte sich das alles ganz anders vorgestellt, hatte gedacht, sie würde glücklich vor Wehen stöhnend an der Hand ihres Mannes durch den Haupteingang zum Kreißsaal gehen. Doch nun steht sie hier allein. Da kommt ein junger Sanitäter aus einem Krankenwagen gesprungen und will ihr spontan helfen.

Coronavirus in der Schwangerschaft: Stephanie Bien nach Idas Geburt mit den Krankenschwestern Vita Jakupi (li.) und Danijela Sikaja.

Stephanie Bien nach Idas Geburt mit den Krankenschwestern Vita Jakupi (li.) und Danijela Sikaja.

(Foto: privat)

Stephanie Biens Gedanken rasen. Der Sanitäter hat keinen Mundschutz auf und in dem Moment wird ihr klar: "Okay, du bist jetzt gefährlich für andere." Sie ruft: "Bitte nicht näher kommen!" Der Sanitäter antwortet: "Sie brauchen keine Angst haben, ich habe kein Corona." Stephanie Bien schüttelt verzweifelt den Kopf und ruft: "Aber ich vielleicht!" Eine sonderbare Situation. Sie bekommt ihren ersten Mundschutz hingelegt, maskiert sich, ist traurig. Rückblickend sagt sie: "Das war der schwierigste Moment."

Im Covid-Kreißsaal gibt es keine aufeinander abgestimmten Rottöne, keine Vorhänge an den Wänden, auch keine Geburtswanne, wie sonst auf der Starnberger Gebärstation. Die Kreißsaaloberärztin Jessica Reif hat an diesem Donnerstag Dienst, sie protokolliert den Kaiserschnitt und achtet auf die Einhaltung der Hygieneregeln. Reif begleitet jährlich 400 Geburten, im Klinikum Starnberg kommen jedes Jahr 3000 Babys zur Welt, Gebären ist hier Tagesgeschäft. Doch so eine Geburt wie die von Ida hat noch keiner erlebt.

"Am Anfang wussten wir nicht, wie belastbar die schwangeren Patientinnen sind"

Ida wird eines von bislang nur zwei Babys im Starnberger Klinikum sein, deren Mütter bei der Geburt Covid-positiv waren. Sechs Verdachtsfälle werden noch unter der Geburt "entisoliert", wie die Ärztin das nennt, wenn ein negativer Test doch noch Entwarnung bringt. Doch in dem Moment als Stephanie Bien in den Kreißsaal kommt, sind noch viele Fragen offen. "Am Anfang wussten wir nicht, wie belastbar die schwangeren Covid-19-Patientinnen sind, wie schnell die Krankheit auf die Lunge geht", sagt Ärztin Reif. "Die meisten Studiendaten dazu kamen aus China, wo es immer schon eine sehr hohe Kaiserschnittrate gibt." Gemeinsam mit sieben anderen Geburtshelferinnen legt Ärztin Reif in einer minutenlangen Prozedur extra Schutzkleidung an, mit der sie hofft, sich vor dem Virus schützen zu können. Alle sind angespannt. Sie haben gerade erst eine Fortbildung gehabt über Beatmung von Covid-19-Patienten. Sie schwitzen unter ihren Astronautenanzügen. Der Schnitt für die Sectio wird gesetzt.

12.58 Uhr. Und dann ist Ida da, sie schreit, ist noch ganz verschmiert, aber lebendig. "Sie sah so klein und dünn aus, als sie sie mir gezeigt haben", sagt Bien, "Ich war glücklich ab der ersten Sekunde. Dieses Baby hat mir alle Ängste genommen." Das Neugeborene wird von einer Kinderärztin untersucht. Alles okay. Ärztin Reif macht ein Foto. Stephanie Biens Kaiserschnittnarbe wird vernäht, sie kommt auf die Station für Kontaktpersonen.

Starnberg: Klinikum STA - Dr.Jesssica Reif

Oberärztin Jessica Reif nahm den Kaiserschnitt vor.

(Foto: Nila Thiel)

Am Tag nach der Geburt kommt die Gewissheit: Stephanie Bien hat sich mit dem Coronavirus angesteckt, nun wird sie auf die Isolierstation verlegt, gemeinsam mit ihrem Baby. Sie wickelt Ida in die lila- und pinkfarbene Decke, die die Mutter einer Freundin für sie gestrickt hat. "Diese Decke hat so viel Wärme in dieses kalte Zimmer gebracht", sagt Bien. Ursprünglich hatte sie sich ein Einzelzimmer gewünscht, um ein bisschen Ruhe für sich und ihr Kind zu haben. Jetzt liegt sie in einem leeren Vierbettzimmer.

Bien wundert sich: Das Essen schmeckt nach nichts. Dabei hatte man ihr vom Menüplan in der Starnberger Klinik vorgeschwärmt, sie hatte sich darauf gefreut, nach der Geburt endlich ohne Übelkeit genießen zu können. Sie bittet um Salz und Pfeffer. Sie riecht auch später nicht, wenn die Windel voll ist. Dass eines der Hauptsymptome einer Corona-Infektion der Verlust von Geschmacks- und Geruchssinn ist, ahnt zu diesem Zeitpunkt noch keiner. Es wird Biens einziges Symptom bleiben.

Als sie von ihrem positiven Test erfährt, ist sie sogar erleichtert

Ein Neugeborenes steckt sich nicht automatisch bei seiner Mutter an. "Eine In-Utero-Infektion noch im Mutterleib kommt nur ganz selten vor", sagt Oberärztin Reif. Also muss Stephanie Bien immer Mundschutz tragen. Egal, wie blöd sich das anfühlt, sein Neugeborenes nur maskiert im Arm zu halten, das eigene Kind nicht küssen zu können, Stephanie Bien will Ida schützen, wenigstens mit diesem Stückchen Stoff vor ihrem Mund. Und so versinkt sie eben in den blauen Augen ihrer Tochter, die noch heute, neun Monate später, genauso entschlossen blau strahlen.

Ob Ida Corona hatte, weiß keiner so genau, im Krankenhaus wurde sie nicht getestet. Seltsam eigentlich, sagt Bien heute, sie geht aber davon aus, dass ihre beiden Kinder sich ebenfalls angesteckt haben müssen, bloß symptomfrei blieben. "Ich war einigermaßen erleichtert, als ich die Nachricht gekriegt habe, dass ich auch infiziert bin, denn ich wollte einfach schnellstmöglich zu meinem Mann und meinem Sohn zurück nach Hause."

Dass sie Corona haben, traut sich Stephanie Bien kaum ihren schwangeren Freundinnen zu schreiben. Alle sind verunsichert

Vier Tage bleibt Stephanie Bien im Krankenhaus isoliert. "Ich wusste, ich muss mich erst von dem Kaiserschnitt erholen, damit ich zu Hause die Kraft habe zu funktionieren." Dann warten ihr Mann und ihr Sohn vor der Klinik, um sie und Ida abzuholen. Eine vierköpfige Familie geht in die Abschottung. Wochenlang sind sie nun nur zu viert. Dass sie Corona haben, traut sich Stephanie Bien kaum ihren schwangeren Freundinnen aus der Spielgruppe zu schreiben. Alle sind verunsichert. Vater Bien kämpft über Wochen mit dem Infekt.

Die Wöchnerin Bien verabredet sich einmal am Tag mit ihrer Hebamme zum Videoanruf. Dann versucht sie, ihr die Kaiserschnittnarbe auf dem Bildschirm zu zeigen. Ihre Tochter Ida kann sie stillen, das klappt gut, auch wenn sie zuerst noch den Mundschutz aufbehält. Auch um alles andere muss sie sich nun selber kümmern. Das Kind wiegen, einschätzen, ob alles in Ordnung ist. Die Wöchnerin muss zugleich Hebamme und Ärztin sein, sie fühlt sich allein gelassen.

Immerhin hat eine freundliche Apothekerin eine Babywaage vor die Tür gelegt. Die Schwiegereltern gehen einkaufen und stellen kistenweise Lebensmittel in den Fahrstuhl, 15 unterschiedliche Dosen Tomatensoßen, die sie in den zweiten Stock des neuen Mehrfamilienhauses schicken. "Wenn ich mich so zurückerinnere, war das schon eine schwierige Zeit, ohne tröstende Worte, ohne Umarmungen", sagt Bien. Sie sei froh, dass Ida bereits ihr zweites Kind sei und sie ein bisschen entspannter war als beim ersten.

Wie gut das tut, wenn man andere um sich hat, die einen bestärken und einem Mut machen in Situationen, in denen man es braucht. Das lernt Bien in dieser Zeit noch mehr zu schätzen. "Das Zwischenmenschliche hat für mich schon immer den höchsten Stellenwert", sagt Stephanie Bien, sie ist Sozialpädagogin von Beruf. "Das Miteinander ist das, worauf es ankommt im Leben. Wir sind keine Wesen, die im Alleingang durchs Leben gehen. Menschen brauchen andere Menschen. Gerade in solchen Situationen wie Geburt oder Trauer. Ich hoffe, dass das bald wieder anders wird und die Leute nicht mehr solche einsamen Zeiten erleben müssen."

Und dann ist irgendwann alles überstanden, das Kind gedeiht, die Narbe heilt, das Fieber klingt ab. Florian Bien hat so viele Antikörper im Blut, dass er sich wohl so schnell nicht mehr anstecken wird, sagen seine Ärzte. Stephanie Bien hat sich erholt, sie kann jetzt zu den U-Untersuchungen mit ihrer Tochter zum Kinderarzt fahren. Man beruhigt ihre Sorgen um den Säugling. "In der Zeit, in der alle gebibbert haben, haben wir uns fast wie Superhelden gefühlt", sagt sie.

Sie fahren S-Bahn mit Säugling und Kleinkind und werden komisch angeschaut von den wenigen anderen Menschen, die sich heraus trauen. Es ist Ende April geworden. Nach sechs Wochen besuchen sie die Schwiegereltern, sie fahren zu Stephanie Biens Mutter und treffen sich im Garten. Die Großmutter und die Enkelin sehen sich zum ersten Mal im Leben, Tränen kullern. Sie haben beide am 19. März Geburtstag. Es wird ein ganz besonderer Tag im Familienkalender bleiben.

Irgendwann bleibt Stephanie Bien beim Durchscrollen auf Facebook an einer Nachricht hängen: Erstickt während der Geburt, steht da, eine Geschichte über eine Corona-positive Mutter, die die Geburt ihres eigenen Kindes nicht überlebte. Grauenvoll. Jetzt ist sie im Nachhinein doch froh über den Kaiserschnitt, der sie erst so grämte. Ist dankbar, dass alle in ihrer Familie wieder gesund sind. Sie will sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn ihr Kind unter der Geburt nicht genug Sauerstoff bekommen hätte. "Ich war einfach total erleichtert, dass wir das überstanden haben."

Wenn man Ida Bien heute, neun Monate später, in ihrem Stockdorfer Zuhause besucht, dann strahlt die Kleine einen fröhlich an. Sie greift nach der hölzernen Kuh, die in der Krippe steht. Sie zieht sich jetzt schon hoch in den Stand, hält sich an der Kante der Spielküche fest. Sie wagt bereits erste Schritte, noch vor ihrem ersten Geburtstag. Sie scheint diesen Planeten unbedingt erkunden zu wollen.

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