Die Stille klingt verdächtig, sie dröhnt nahezu. Warum ruft keine der Frauen mehr an? Dass das Frauennotruftelefon in Herrsching ausgerechnet zu Beginn der Ausgangsbeschränkungen seltener klingelte, kam der Sozialpädagogin Cordula Trapp zuerst komisch vor. Doch nachdem sie wieder Kontakt zu einigen ihrer Klientinnen hatte, wurde ihr klar: Frauen, die häusliche oder sexualisierte Gewalt erleben, stehen durch die Corona-Pandemie so sehr in Bedrängnis, dass sie nicht mal mehr eine Gelegenheit finden, zum Telefonhörer zu greifen.
Der Partner, der sie bedroht, beleidigt, schlägt, würgt und schubst: Ist jetzt ständig daheim im Home-Office, in Kurzarbeit oder auch arbeitslos. Die Kinder, die sie schützen muss: Sie können nicht mal mehr auf den Spielplatz, alle Frühwarnsysteme und Schutzorte außerhalb wie Schulen, Kitas oder Sportvereine fallen weg. So verschärft die Corona-Krise die Situation für Frauen in Not besonders. Und deshalb, so vermutet Cordula Trapp, wird das Herrschinger Notruftelefon wohl im Nachhinein noch sehr oft klingeln dieses Jahr. Sobald die Kraft der Frauen wenigstens zum Anrufen reicht.
Die drei Sozialpädagoginnen in der Herrschinger Beratungsstelle rechnen damit, dass die Fallzahlen nach oben schnellen werden. Dabei sind die schon jetzt monströs: Jeden dritten Tag wird eine Frau von ihrem Partner umgebracht. Das ist der bundesweite Durchschnitt - vor Corona. Mit dem Zwang, zuhause zu bleiben, rutscht die Partnergewalt in den unsichtbaren Bereich. Noch kann niemand genau abschätzen, was hinter all den verschlossenen Haustüren passiert ist und noch immer passiert. Deutschlandweit schlagen Sozialarbeiter Alarm. Eine neue Studie von Wissenschaftlerinnen der TU München und des RWI Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Essen ergab jüngst: 3,1 Prozent der 3800 online befragten Frauen berichteten, dass sie in der Zeit der strengen Kontaktbeschränkungen mindestens eine körperliche Auseinandersetzung erlebt haben wie etwa Schläge. Ähnlich viele Betroffene gaben an, vergewaltigt worden zu sein. Bei Frauen, die sich zu Hause in Quarantäne befanden, stiegen die Zahlen stark: Hier berichteten 7,5 Prozent von körperlicher Gewalt. Bei Familien, die akute finanzielle Sorgen hatten, lag die körperliche Gewalt gegen Frauen bei 8,4 Prozent.
Sozialpädagogin Trapp schaut ernüchtert auf die wenigen Zahlen, die ihr für die Region Starnberg vorliegen: Allein seit März hat der Frauennotruf in 13 Fällen die Kontaktdaten von Frauen weitergeleitet bekommen, die die Polizei wegen häuslicher Gewalt gerufen haben. Das sind fast doppelt so viele Fälle wie sonst. Die Polizeidirektion Oberbayern verzeichnet indes keinen Anstieg der Anzeigen wegen häuslicher Gewalt - gibt aber zu bedenken, dass Opfer oft erst später den Mut fänden, die Täter anzuzeigen, und die Dunkelziffer hoch sein dürfte. "Wir gehen fest davon aus, dass die Zahlen 2020 noch steigen werden", sagt Trapp.
Neuerdings bietet der Frauennotruf auch Beratungsspaziergänge an für Klientinnen, die schon länger in Kontakt mit den Sozialpädagoginnen sind. "Walk and Talk" nennt Trapp dieses Angebot, bei dem ein Gespräch im Gehen an der frischen Luft auch ohne Mundschutz stattfinden könne.
"Der Mundschutz kann für Frauen, die beispielsweise gewürgt wurden oder die den Mund zugehalten bekommen haben, ein sehr unangenehmer Schlüsselreiz sein, der sie triggert und an die Gewalterfahrung erinnert", sagt Trapp. Andere ihrer Klientinnen können Menschenmassen und Berührungen von Fremden nicht aushalten - ihnen kommen die aktuellen Abstandsgebote eher zugute.
Trapp ist Trauma-Fachberaterin. Wenn eine Frau in Not die Nummer 08152/5720 wählt, ist Trapps oberstes Ziel: Stabilisieren. Damit meint sie alltagspraktische Hilfe für die Anruferin. Es gehe nicht in erster Linie darum, das erlebte Trauma der Frau therapeutisch aufzuarbeiten, sondern Orientierung zu bieten und zu den richtigen Hilfen zu lotsen. "Manche Frauen können ihrem gewalttätigen Partner nur zeitweise entkommen, wenn sie einen Grund vorschieben. Da kann eine Gassirunde mit dem Hund schon sehr helfen", sagt Trapp. Andere Opfer sehnten sich jene Zeitfenster herbei, in denen der gewalttätige Partner kurz das Haus verlässt. "Eine ältere Klientin zum Beispiel kann nur dann anrufen, wenn ihr Mann bei der Ergotherapie ist." Oftmals wissen die Frauen nicht, welche juristischen Möglichkeiten sie hätten: Ein Kontakt- oder Näherungsverbot und eine Wohnungszuweisung können helfen. Die Beraterinnen vom Frauennotruf begleiten die Frauen bis vors Amtsgericht und stehen an ihrer Seite.
Doch viele Opfer scheuen den Gang vors Gericht, auch aus Angst vor einer Bloßstellung. "Zur häuslichen Gewalt gehört, dass die Frauen mit der Zeit immer isolierter sind und den Kontakt zu Verwandten und Freunden verloren haben", sagt Cordula Trapp.
In der Beratungsstelle arbeiten neuerdings drei Sozialpädagoginnen. Die neue Kollegin heißt Heike Glöckner, sie wird künftig den Bereich Prävention ausbauen und Kinder und Jugendliche gewaltbetroffener Mütter beraten. Denn: Das Miterleben von Gewalt hat negative Auswirkungen auf die Entwicklung von Kindern, zitiert Trapp Studien. Wenn eine gewaltbetroffene Familie keine Unterstützung erhält, ist das Risiko von Mädchen erheblich höher, im Erwachsenenalter ebenfalls Opfer von Gewalt zu werden. Während bei Jungs die Gefahr, ein potenzieller Täter zu werden, ebenfalls steigt, so Trapp.
Dabei kennt Gewalt keine gesellschaftlichen Grenzen, sie beschränkt sich nicht auf ein bestimmtes Milieu: Die Frauen, die den Herrschinger Notruf wählen, kommen laut Trapp aus allen gesellschaftlichen Schichten, von der Unterkunft für Geflüchtete bis hin zur Managergattin im Eigenheim. Zur Risikogruppe gehörten auch Frauen, bei denen man einen Opferstatus eher nicht vermutet: gestandene Frauen, Mitte 40, mit hohem gesellschaftlichen Status, zum Beispiel eine gut ausgebildete Ärztin, die mit den Kindern daheim geblieben ist und nun von ihrem Arztgatten verprügelt wird. "Es trifft immer wieder Frauen, von denen keiner denken würde, dass sie Gewalt erleben", sagt die Sozialpädagogin Trapp.
Dabei gibt es Warnzeichen. "Kein Partner schlägt zu, ohne dass es vorher Demütigungen oder Drohungen gab", sagt Trapp. Das kann von "Ich tue der Katze etwas an" bis hin zu "Ich nehme dir die Kinder weg" reichen. Viel zu lange hörten sich Frauen so etwas an. Bis dann Taten folgten. Eine Anruferin beim Herrschinger Frauennotruf fand schon gar nichts Besonderes mehr daran, dass sie gewürgt wurde, sie erzählte es nebenbei. "Ihr ist gar nicht mehr aufgefallen, wie drastisch das war", sagt Trapp. Wenn jemand sich an üble Beleidigungen gewöhnt habe, dann sei es schon sehr weit gekommen. Im Durchschnitt dauere eine Gewaltbeziehung aber sieben Jahre. "Der Druck muss leider schon sehr groß sein, bis die Frauen sich Hilfe suchen."