Süddeutsche Zeitung

Corona-Pandemie:"Pflegende Angehörige bewundert niemand"

Sie kümmern sich rund um die Uhr um ihre Lieben. Viele sind derzeit völlig auf sich allein gestellt, weil jeder Kontakt zu Kindern, Enkeln und Helfern ein Risiko darstellt. Deswegen wünschen sich Angehörige möglichst bald die Impfung.

Von Carolin Fries, Starnberg

Jürgen H. sagt, die Einsamkeit sei schlimm. Der 80-Jährige pflegt seit sechseinhalb Jahren seine schwerkranke Frau, ein Vollzeitjob, wie er erzählt. Er wäscht sie morgens und abends, hilft beim Anziehen, kocht, macht die Wäsche, erledigt den Einkauf. Die Putzhilfe kommt schon seit Monaten nicht mehr und auch nicht die Damen, die ihn vor der Corona-Krise mal für zwei Stunden in der Betreuung abgelöst haben. Gymnastik findet nicht mehr statt, also geht er mit seiner Frau vor die Tür, "ich bin dann der Rollator". Eine halbe Stunde die Straße rauf und wieder runter, dann wieder in die Wohnung. Bloß niemanden treffen, bloß nicht anstecken. Nicht auszudenken, was das bedeuten würde. Käme doch endlich das mobile Impfteam. "Wir warten", sagt Jürgen H.

Jürgen H. und seine Frau, die nicht mit ihren richtigen Namen in der Zeitung erscheinen wollen, haben nach der bundesweiten Impfverordnung mit höchster Priorität Anspruch auf eine Corona-Schutzimpfung. Vorrangig werden im Landkreis aber die Bewohner und das Personal in Altenheimen und Pflegeeinrichtungen sowie in den Kliniken geimpft. Wer in den eigenen vier Wänden gepflegt wird, braucht Geduld. Wer noch keine 80 Jahre alt ist, in besonderem Maße, kommt er erst in der zweiten Prioritätsstufe an die Reihe. Ebenso die betreuende Person.

Max Körte aus Tutzing zum Beispiel. Der 79-Jährige pflegt seit zweieinhalb Jahren zu Hause seine demente Ehefrau Brigitte, 78. Zehn Tage am Stück hat er es im Lockdown im Frühjahr alleine geschafft, "dann konnte ich nicht mehr". Im Dezember hat er zwölf Tage lang durchgehalten, dann musste er selbst ins Krankenhaus. Entlastung findet der Rentner nur, wenn er seine Frau in die Tagespflege bringen kann, normalerweise an drei Tagen in der Woche. Doch was, wenn die Einrichtung pandemiebedingt geschlossen hat? Seit dieser Woche darf seine Frau in die Notbetreuung, Schnelltests der Gäste sollen Ansteckungen vorbeugen. Max Körte hofft, dass Tagespflege-Einrichtungen möglichst bald von Impfteams aufgesucht werden. Und dass auch er bald immunisiert wird. "Meine größte Sorge ist, dass ich ausfalle", sagt er. Für den Notfall hat er zwei Helferinnen und seinen Sohn als Ersatz benannt.

Die Sorge um ihre Angehörigen sowie die, selbst auszufallen, treibe viele pflegende Angehörige in die Isolation, berichtet Sonja Herrmann, Leiterin der Fachstelle für pflegende Angehörige im westlichen Landkreis der Nachbarschaftshilfe in Inning. "Die große Hoffnung ist der Impfstoff, es wäre sehr schön, wenn das schneller ginge." Die Ungeduld ist groß. Bei Armin Heil, Geschäftsführer der Ambulanten Krankenpflege in Tutzing, klingelt ständig das Telefon: "Die Leute wollen wissen, wann und vom sie Post bekommen, wie sie nach Gauting ins Impfzentrum kommen oder ob es auch Termine im Ort gibt." Viele Fragen kann er selbst nicht beantworten. Ist die Tagespflege eine stationäre Einrichtung oder hat ähnliche Strukturen? Dann würden die Pflegebedürftigen vorrangig und vor Ort geimpft, teilt das Landratsamt mit. Heil fände das sinnvoll, der BRK-Kreisverband als Betreiber des Impfzentrums prüfe das. Solange heißt es, weiter warten und durchhalten.

"Wir haben versucht, in der Pandemie zu entlasten", sagt die Inninger Sozialarbeiterin Herrmann. "Doch wir hatten kein Angebot." Viele Pflegedienste hätten ihre Hilfen stark eingeschränkt. "Neue Kunden haben gar keine Chance." Es gebe lediglich Plätze auf Wartelisten. Etwa 500 pflegende Angehörige hat die Sozialarbeiterin im vergangenen Jahr beraten, mehr als im Jahr zuvor. "Reden und gehört werden" sei vielen Menschen, die ihre Liebsten in der Isolation versorgen, ein großes Bedürfnis.

Das bestätigt Maria Dengler von der BRK-Fachstelle für pflegende Angehörige in Starnberg, die den östlichen Landkreis abdeckt. Auch sie wurde im vergangenen Jahr verstärkt angefragt, weil viele "nicht mehr Luft holen" konnten, wie sie sagt. "Die haben sich oft über Jahre mühsam Möglichkeiten geschaffen, mal für ein paar Stunden alleine das Haus verlassen zu können und dann bricht alles weg." Zudem zögen sich die Kinder zurück, um die Infektionsgefahr möglichst gering zu halten. Doch ein knappes Jahr lang keine Familientreffen mehr - das sei ein großer "emotionaler Schmerz", so Dengler.

Jürgen H. und seine Frau haben ihre Kinder, die fünf Enkel und das Urenkelkind seit Monaten nicht mehr gesehen. "Wir wollen das auch nicht in der momentanen Situation", sagt Jürgen H. Sie wollen ihr altes Leben zurück mit kleinen Glücksmomenten wie einem kurzen Ausflug ins örtliche Museum oder ins Strandbad-Restaurant auf einen Salat. Und grundsätzlich mehr Anerkennung. "Ich bewundere jeden Pfleger, der das acht Stunden macht", sagt Jürgen H. "Pflegende Angehörige bewundert niemand."

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SZ vom 09.01.2021
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