Bildung:"Ich weiß echt nicht, was der Sinn von G8 war"

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Das Abitur ist geschrieben. Und jetzt? (Foto: Martin Schutt/dpa)

Im Eiltempo durch die Schule - wie fühlt sich das an? Die letzten Abiturienten mit verkürzter Gymnasialzeit blicken zurück und verraten ihre Pläne für die Zukunft.

Protokolle von Carolin Fries und Viktoria Spinrad, Starnberg

Das schriftliche Abitur ist durch, nach den Pfingstferien folgen die mündlichen Prüfungen. Dann hat es der letzte G8-Jahrgang geschafft. Im Eiltempo sind sie durch den Stoff gejagt, haben Pandemie und Lehrermangel getrotzt. Und jetzt? Geht es erstmal auf Weltreise oder gleich an die Uni? Wie sieht der Blick nach vorne aus - und wie fühlt es sich an, auf die Schulzeit zurückzublicken? Die SZ hat sich im Landkreis umgehört.

Lisa Dissmann, 17, Otto-von-Taube-Gymnasium in Gauting

Erst einmal Pause: Lisa Dissmann mag sich einen Kindheitstraum erfüllen und nach Island reisen. (Foto: privat)

"Das Deutsch-Abi war eine große Hürde für mich. Ich schreibe lieber zweimal Mathe als einmal Deutsch. Aber jetzt ist es geschafft. Ich habe in der Schule schon viele Möglichkeiten bekommen, mich auf Bereiche zu spezialisieren, die mich interessieren. Die Hausarbeit in der siebten Klasse habe ich zum Beispiel über den Pazifik geschrieben. In meinem Auslandspraktikum im TUM-Kolleg durfte ich Wasserschnecken evolutions- und gentechnisch erforschen. Für drei Wochen war ich in Schweden, das war der Wahnsinn! Dort habe ich neben den Forschungen einen allumfassenden Einblick in das Leben auf der Forschungsstation bekommen. Meine Forschungsarbeit war allerdings eine große Herausforderung für mich, weil ich auch mal zu keinen zielführenden Ergebnissen kam. Das ist sehr frustrierend. Aber auch das ist Wissenschaft, wie ich gelernt habe.

Jetzt mache ich erst einmal ein Gap Year. Ich will weg vom Lernen und mir vielleicht meinen Kindheitstraum vom Reiten in Island erfüllen, mal die Polarlichter sehen. Was genau ich dann studieren will, muss ich noch herausfinden, irgendwas im Biologie- oder Umweltbereich. Ich finde, dass wir auch im G8 die Möglichkeit hatten, Inhalte zu vertiefen. Corona hat halt leider viel Zeit genommen. In der Oberstufe war schon Druck da, aber dann muss man eben mal eine Verabredung absagen. Rückblickend war die Schule ein toller Lebensabschnitt: Ich kann mich jetzt selbst organisieren. Und durch die Teilnahme am Tutorenprogramm und der SMV habe ich viel über soziale Beziehungen gelernt. In der Theatergruppe habe ich Selbstbewusstsein gewonnen, das nehme ich mit. Genauso wie meine Freunde. Ich denke, ich habe in der Schule einige Freundschaften fürs Leben geschlossen."

Julian Ammer, 17, Gymnasium Tutzing

Julian Ammer ist einerseits erleichtert, andererseits aber auch etwas traurig, dass die Schulzeit vorbei ist. Viele seiner Freunde wird er dann nicht mehr so oft sehen. (Foto: privat)

"Ich bin schon froh, dass nach zwölf Jahren Schule demnächst erst einmal Ruhe ist. Wegen G8 ging es bei uns schon ab der sechsten Klasse mit Nachmittagsunterricht los. Und in der Oberstufe wurde bei uns der Stoff eines ganzen Halbjahrs zwischen Weihnachten und Fasching durchgebracht. Es war schwierig, den Stoff überhaupt zu schaffen. In der Woche hatten wir teils mehrere Klausuren, Referate und Kurzarbeiten auf einmal. Das ist einfach nicht mehr normal. Ich weiß echt nicht, was der Sinn von G8 war.

Ich wollte aber einen Einserschnitt, und dafür muss man eben einiges machen. Bei 25 Grad drinnen sitzen und lernen, zum Beispiel. Das Fußballtraining musste ich oft absagen, das ist schon blöd. Wenn ich mir den Jahrgang unter uns anschaue, dann sieht man: Da geht's schon deutlich ruhiger zu.

Aber natürlich gab's auch schöne Seiten. Wirtschaft zum Beispiel fand ich recht interessant. Da haben wir etwa gelernt, welche Rechte ein Käufer hat. Das war sehr lebensnah. Mit anderen Fächern konnte ich weniger anfangen. Wegen der Corona-Zeit hatten wir ohnehin viele Lücken, die sich bis zum Schluss durchgezogen haben.

Ein Schulpraktikum konnte ich deshalb auch nicht machen. Aber ich habe mir dann selber eines in einem Zahntechnik-Labor organisiert. Da konnte ich Zahnschienen mit dem 3D-Drucker herstellen und Zähne per Hand mit Wachs modellieren. Da habe ich gemerkt: Ich mag das Handwerkliche und will Zahnarzt werden. Deswegen würde ich gern Zahnmedizin studieren, am liebsten in Regensburg. Dafür braucht's allerdings einen Schnitt von 1,2 - das wird schwierig. Deswegen werde ich wohl erstmal eine Ausbildung zum Zahntechniker machen. Am liebsten in der Region, hier gefällt es mir - und vielleicht bleibt ja dann wieder etwas mehr Zeit für den Fußball."

Emma Regber, 18, Landschulheim Kempfenhausen

Obwohl Emma Regber blind ist, schreibt sie mit das beste Abitur des Jahrgangs. Nun möchte sie erst mal ins Ausland. (Foto: privat)

"Das Abi war für mich eine sehr anstrengende Zeit. Meine Sehkraft liegt unter zwei Prozent, ich sehe nur noch sehr schemenhaft. Bei den schriftlichen Prüfungen mussten mir die Lehrer also alles vorlesen. Dass in Deutsch dann auch noch ein Gedicht drankam, in dem einer mit eingeschränkter Sicht durch den Nebel irrt, hat es auch nicht leichter für mich gemacht.

Bis ich sieben war, konnte ich alles sehen. Ab da wurde es immer schlechter. Seit dem letzten Sommer bin ich gesetzlich blind. Ich habe Zapfen-Stäbchen-Dystrophie: eine seltene Erkrankung an der Netzhaut, bei der die Fotorezeptoren absterben. Früher habe ich Schule geliebt, dann wurde das Lernen immer mehr zur Herausforderung. Ich wollte auch nicht auffallen. Aber zum Glück hat das meine Klassenlehrerin in der zehnten Klasse, Frau Bauer, nicht durchgehen lassen. Sie hat sich dafür eingesetzt, dass ich mithilfe technischer Hilfsmittel in Kempfenhausen und damit bei meinen Freunden bleiben kann.

Ich habe gelernt, im 10-Finger-System blind auf einem iPad zu tippen. Das Lesen funktioniert über ein Programm, das mir Texte vorliest. Bei handgeschriebenen Sachen ist das schwierig. Eine Freundin hat mir deshalb ihre gesamten Religions-Hefteinträge vorgelesen - 80 Seiten insgesamt. Überhaupt waren meine Mitschüler sehr verständnisvoll. Da kamen keine blöden Kommentare, kein Mobbing. Dafür bin ich sehr dankbar.

Es ist schwierig, in meiner Situation so unbeschwert zu sein wie die anderen. Während alle anderen erwachsen werden, ihren Führerschein machen, ist es bei mir genau andersherum - ich werde immer abhängiger von anderen. Das ist schwierig zu akzeptieren. Um mich zurechtzufinden, werde ich im kommenden Jahr eine Grundausbildung an der Deutschen Blindenstudienanstalt in Marburg machen. Dort kann man etwa Braille lernen.

Eigentlich wollte ich Psychologie studieren, aber da bin ich mir noch nicht ganz sicher. Die ganzen Biologie- und Statistikmodule sind sehr visuell. Soziale Arbeit hingegen wäre einfacher. Das ist vor allem ein Textstudium, das geht also auch super blind. Damit könnte ich Schulsozialarbeiterin werden. Ich habe ja selber super viel Erfahrung gemacht mit den ganzen Hilfeleistungen. Davon würde ich gern ein Stück weitergeben.

Bevor es wieder ans Lernen geht, möchte ich aber erst mal weit weg ins Ausland und ein Praktikum machen. Zusammen mit einer Freundin bewerbe ich mich derzeit als Kinderbetreuung in einem der Robinson Clubs. Am liebsten möchten wir nach Malediven oder Thailand. Hauptsache irgendwo, wo immer Sommer ist. Da geht es mir am besten."

Jakob Klinger, 18, Otto-von-Taube-Gymnasium in Gauting

Jakob Klinger will Ingenieurwissenschaften oder Tontechnik studieren. (Foto: privat)

"Manche Begriffe, die mir heute begegnen, muss ich nachschlagen in alten Heften: Zins und Zinseszins, ETF oder irgendwas zu Steuer und Renten. Das kam zwar alles vor, aber nur in der Theorie. Dafür habe ich viele andere Dinge gelernt, vor allem Struktur und gezieltes Kommunizieren. Man muss sich auf Gespräche vorbereiten und die Möglichkeiten abwägen, bevor man drauflos argumentiert. Ich bin Stufensprecher und mit den Lehrern in einem offenen Austausch. Ich erlebe sie als sehr unterstützend, wenn man etwas gestalten und ausprobieren will. Ich werde die Menschen hier sicher vermissen, man sieht sich schließlich seit acht Jahren fast jeden Tag. Für mich geht es jetzt weiter ins Studium, entweder Ingenieurwissenschaften oder Tontechnik. Ich spiele seit elf Jahren Klavier und seit zehn Jahren Schlagzeug, war in der Big Band Pianist und im Blasorchester Perkussionist.

Das muss ich nun abgeben. Die Musik wird mich aber weiter begleiten, wenn auch vor allem physikalisch und technisch. Meine Forschungsarbeit im TUM-Kolleg ging, vereinfacht gesagt, darum, wie man mithilfe von akustischen Eigenschaften gebundene Zustände nachweisen kann. Das finde ich interessant. Ich hatte zuerst überlegt, eine Ausbildung zum Tontechniker zu machen, mich danach aber doch für ein Studium entschieden. Die Abinote wird wahrscheinlich 1,6 werden, damit bin ich zufrieden. Ob es ein Jahr mehr an der Schule braucht, um zu lernen, was man fürs Leben braucht? Schwer zu sagen. Klar wird hinten raus ziemlich gepusht im G8, aber das wird im G9 nicht anders sein. Sinnvoller fände ich, schon in der Mittelstufe stärker auf individuelle Stärken zu setzen. Gut sind sicherlich die neuen Lehrpläne - die aktuellen sind inhaltlich schon recht veraltet. Ich freue mich jetzt auf Abistreich und Abifeier, wir sind schon ziemlich weit in der Vorbereitung. An der Schule von zwölf Uhr mittags bis zwei Uhr nachts seinen Abschluss feiern zu dürfen, das ist ein Traum."

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