Süddeutsche Zeitung

Historie:Mit der Eisenbahn kommt der Wohlstand

Ein Buch wie eine Liebeserklärung: "Am Ufer der Berge - Seeshaupt im Wandel" heißt der siebte und letzte Band der Seeshaupter Ortschronik. Autorin Renate von Fraunberg berichtet über ihre Erfahrung mit dem Buchprojekt.

Von Sabine Bader

"Ich bin ein sehr neugieriger Mensch", sagt Renate von Fraunberg über sich selbst, und das meint sie in keiner Weise negativ. Lässt sich doch das Wort "Neugierde" in ihrem Fall mit "Interesse" gleichsetzen. Obendrein ist es auch noch ausschlaggebend für ihren Beruf: Von Fraunberg hat praktisch ihr Leben lang geschrieben. 40 Jahre arbeitete sie für das "Weilheimer Tagblatt", ebenso lange ist sie Mesnerin im Ort, kennt viele Leute, hört viele Geschichten. Seit 50 Jahren leben sie und ihr Mann Bero nun schon in Seeshaupt. 1985 gründeten die beiden die "Seeshaupter Dorfzeitung" und brachten dann fast 20 Jahre lang pro Jahr vier Ausgaben heraus. Von Anfang an interessierte sich das Paar für die Geschichte ihres Wohnortes. Das ist wohl auch der Grund dafür, warum sich die Autorin seit vielen Jahren mit der Historie des Ortes befasst und die Zeugnisse der Vergangenheit in Chroniken niederschreibt; ihr Mann fungiert dabei als überaus kritischer, fachkundiger Begleiter des Projekts. Jetzt ist der siebte und letzte Themenband über die Gemeinde erschienen. Und die inzwischen 75-Jährige meint dazu lapidar: "Ja, jetzt ist eigentlich alles gesagt - sieben Bände sind für ein solch kleines Dorf genug."

An diesem Donnerstag wurde der neue Band "Am Ufer der Berge - Seeshaupt im Wandel" in der Seeresidenz offiziell präsentiert. Kürzlich auf dem Christkindlmarkt fand schon mal eine Art Vorabverkauf statt, bei dem an die hundert Bände die Besitzer wechselten. Die Auflage des 275-seitigen Werks beträgt 700 Stück.

Der siebte Chronikband beschäftigt sich mit dem Weg des Dorfs in die neue Zeit. Dreh- und Angelpunkt dafür ist der Anschluss an die Eisenbahn im Jahr 1865. Bis dahin waren die Seeshaupter weitgehend unter sich. Mit dem Bahnverkehr aber öffnete sich der einst verschlafene Ort nach außen - in wirtschaftlicher wie auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Sommerfrischler und Ausflügler entdeckten den kleinen Ort am Südende des Starnberger Sees und begüterte Münchner ließen sich Villen und Landhäuser bauen. Die Wirtschaft florierte ebenfalls: Wirtsleute richteten Fremdenzimmer ein, in den Kramerläden gab es plötzlich Kolonialwaren und Delikatessen zu kaufen. Zudem waren zunehmend Dienstmädchen und Gärtner gefragt. Die Folge: Seeshaupt wurde langsam wohlhabender. Zuvor waren die Dörfler laut von Fraunberg "bitter arm" gewesen. Hatte die Ortschaft vor der Einweihung der Bahnstation einst aus nur 40 bis 45 Anwesen bestanden, so leben hier heute rund 3000 Menschen.

Das Konzept für die Ortschroniken hatte übrigens von Anfang an grob festgestanden. Die Initiatoren des Projekts waren sich einig gewesen, die Historie in Themenbänden zu strukturieren. Der erste Band - "Damals in April" - befasste sich bereits 2010 mit der Entstehung des Mahnmals im Ort und den Verwerfungen, die die Aufarbeitung der Geschichte mit sich gebracht hat. Heute gibt es eine gewachsene Tradition des Erinnerns im Ort - sowohl an die mehr als 2000 meist jüdischen KZ-Häftlinge, die hier gestrandet waren und von amerikanischen Soldaten am Seeshaupter Bahnhof aus den Viehwaggons eines Güterzuges befreit werden mussten, als auch an die Männer aus dem Ort selbst, die in beiden Weltkriegen gefallen waren. An Letztere erinnert die Autorin, in dem sie im Buch ihre Namen auflistet. Eindrucksvoll ist dazu sowohl das Bild eines abgestürzten Jagdflugzeugs aus der Zeit des Ersten Weltkriegs und das einer örtlichen Fußballmannschaft, von denen die meisten nach dem Zweiten Weltkrieg nicht wiedergekehrt waren.

Die folgenden Bände der Chronik befassen sich unter den Titeln "Die Kirche im Dorf", "Das Künstlerdorf", "Vereint im Verein" sowie "Haus und Hof I und II" mit weiteren Themen, die eine dörfliche Gemeinschaft ausmachen. Dass sich von Fraunberg zum Abschluss ihres Buchprojekts mit dem Aufbruch des kleinen Ortes in die moderne Zeit beschäftigen wird, stand also immer von vornherein fest. "Ich hatte eine Schachtel, in die habe ich alles geworfen, was nach der Eröffnung der Bahn spielte", erzählt die Autorin. So konnte sie bei der Recherche für das neue Buch gleich auf einen erklecklichen Fundus zurückgreifen. Und Renate von Fraunberg hatte es nicht schwer, an weiteres Fotomaterial aus den heimischen Alben zu kommen: "Ich weiß , wohin und zu wem ich gehen muss."

Eine Erfolgsgeschichte: Doc Martens Schuhe aus Seeshaupt werden weltweit getragen

Überhaupt ist dieser Chronikband besonders reich bebildert. Man erfährt viele Geschichten über die Bewohner und die Wirtschaftsbetriebe im Ort. Ein Beispiel für ein später weltbekanntes Unternehmen, das in Seeshaupt seinen Anfang nahm, ist "Dr. Martens". Die Idee für das besonders rustikale Schuhwerk hatte der Mediziners Klaus Maertens: Ihn hatte es um das Jahr 1948 in den kleinen Ort verschlagen. In einer unspektakulären Schusterwerkstatt fertigte er die ersten bequemen Luftpolster-Schuhe gemeinsam mit zwei örtlichen Schustern. Die Idee für die bequemen, später millionenfach verkauften Stiefel "Docs" war ihm offenbar in einem aufgelassenen Armee-Lager gekommen, wo er einen Prototyp aus Reifenschläuchen herstellte. Wegen der schnell gestiegenen Nachfrage verlegte er die Sohlenproduktion bald nach München. Heute werden laut von Fraunberg weltweit jährlich vierzehn Millionen Paar der markanten Schuhe mit den gelben Nähten verkauft. Noch bis zum Jahr 2000 habe man "Docs" übrigens auch bei Elisabeth Maertens persönlich anprobieren und kaufen können.

Was von Fraunberg bei der Recherche zu diesem Buch besonders berührend fand, war das Vertrauen, das ihr die Leute im Ort entgegenbrachten. Sie händigten ihr ganz selbstverständlich historische Dokumente und Fotos aus, stets in dem Glauben, dass sie alles wohlbehalten zurück bekommen. Das war mit ein Grund, warum ihr die Arbeit an den Büchern so viel bedeutet hat. Geld verdient die Autorin mit dem zeitintensiven Chronikprojekt nach eigenem Bekunden nicht. Die Gemeinde beteilige sich an den Kosten für die aufwendig gemachten Bände, erzählt sie. Den Rest finanziere die Bürgerstiftung über Spenden. Diese sei es auch, die die Auflage vorfinanziere und die Organisation unter sich habe. "Es ist uns von Anfang an wichtig gewesen, dass die Buchserie von einem professionellen Gestalter konzipiert wird", sagt die Autorin. Dadurch sehe die ehrenamtliche Arbeit "einfach nach etwas aus", und sie findet: "Das hat sich in jedem Fall gelohnt."

Erst im Nachhinein ist Renate von Fraunberg aber noch etwas klar geworden: Die Buchserie ist für sie persönlich "eine Liebeserklärung" an ihre Wahlheimat.

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