Süddeutsche Zeitung

Pandemie:Wie eine Familie vom Starnberger See 163 Haushalte auf Bali über Wasser hält

Die Flügels aus Seeshaupt wollen sich ein Jahr Auszeit auf der Insel gönnen. Als Corona über das Urlaubsparadies hereinbricht, gründen sie ein großes Hilfsprojekt.

Von Manuela Warkocz

Ein ganzes Jahr Auszeit auf Bali - das bedeutete für die Seeshaupter Familie Flügel zunächst Chillen am Strand von Canggu, Wellenreiten für die beiden Kinder Titus und Leila nach der Schule und für Dian Flügel nach den Wurzeln ihrer balinesischen Familie zu suchen. Darüber schreibt sie ein Buch. Ihre Eltern sind aus Java ausgewandert, sie selbst ist in Bremen geboren. Mit 45 Jahren spürte sie Sehnsucht, sich intensiv mit Indonesien zu beschäftigen.

Eigentlich gestaltete sich im Spätsommer 2019 alles paradiesisch auf Bali. Keine finanziellen Sorgen. Ernst Flügel, 53, hatte gerade seine Anteile an einer Messebaufirma verkauft. Das schöne Haus nahe dem Starnberger See war gut vermietet. Dann schlich sich im März 2020 Corona auf die Tourismusinsel. Damit endete der Traum. Aber für Flügels begann etwas Neues. Beim Gespräch in ihrem lichten Haus, umgeben von vielen Kunstwerken, erzählen die Eheleute sympathisch offen, was aus ihrer balinesischen Auszeit wurde.

Als Bars und Hotels aus Gästemangel schließen, werden viele einheimische Bekannte umgehend arbeitslos. Und nach wenigen Wochen mittellos. "Es gibt ja keine soziale Absicherung, da geht es gleich ums blanke Überleben", so Ernst Flügel. Die Flügels helfen erst spontan. Stecken ihrem Freund, dem Barmann Viki, Geld für die Miete zu. Organisieren Essenspakete zur Unterstützung. Und der Wirtschaftsingenieur und Unternehmer Flügel merkt bald: Die Hilfe muss strukturiert aufgebaut werden.

Flügels schicken einen Newsletter an 120 Bekannte. Und während Deutschland im ersten Lockdown hängt, kommen innerhalb von nur zwei Wochen 10 000 Euro an Spenden zusammen. Damit soll eine Perspektive für balinesische Familien geschaffen werden, wieder unabhängiger vom Tourismus existieren zu können. 6,3 Millionen Touristen besuchten 2019 die Insel, auf der 4,2 Millionen Balinesen leben. Vergangenes Weihnachten waren es nur um die 100 000 Gäste.

Corona hat aus internationalen Hotspots wie Kuta Beach und Seminyak Geisterstädte gemacht. Es soll auf der Insel lediglich zwei Beatmungsgeräte gegeben haben, keine Tests. Dörfer seien mit Wasserwerfern desinfiziert worden, so Flügels. In Deutschland horteten Leute unterdessen Klopapier. "Wir haben das nicht zusammengebracht. Das war so ein völlig anderer Fokus", erinnert sich Dian Flügel an die Zeit.

Das C wie Corona, Covid-19 und Co., das die Autorin in ihrem Reiseblog als "scharfe Sichel" beschreibt, der auf den Planeten Erde schlägt, sollte nach ihrem Willen eine positive Bedeutung bekommen. C wie Chance. Und mehr. Flügels gründen den Verein ChanceforChange e.V. Sie knüpfen ein tragfähiges Netzwerk aus Spendern und Paten.

Mehr als 172 Unterstützer, davon 67 Seeshaupter, zählt der Verein mittlerweile. Er sichert 163 balinesischen Familien ein Auskommen. Die evangelische Kirche vor Ort übergibt jeden Monat 52 Familien, die kein Bankkonto haben, direkt Geld. Ein Frauenzentrum stellt gesunde Essenspakete zusammen, mit Reis von der Insel und möglichst wenig Plastik. Dieses Programm gibt wiederum den Frauen Arbeit.

Weitere Schwerpunkte sind, traditionelle Handwerkskunst und organische Landwirtschaft zu fördern. Der Verein orientiert sich an den 17 Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen, darunter Hilfe zur Selbsthilfe, Wege zu Bildungschancen und Jobs. So übernehmen Sponsoren drei Jahre lang die Gebühren für zwölf Schüler, damit sie weiter ihre Highschool in Selasih in Zentral-Bali besuchen können - ein Betrag von etwa zwölf Euro monatlich. "Denn Schulgeld ist leider das Erste, was Familien einsparen", bedauert Dian Flügel. Später will man Absolventen ein Studium finanzieren und sie ermuntern, im Land zu bleiben.

Wie für viele wohltätige Vereine ist es auch für ChanceforChange in Coronazeiten unmöglich, Aktionen wie Lesungen, Flohmärkte oder Kickerturniere zu veranstalten, um zusätzlich Geld zu akquirieren. Flügels setzen daher auf ein Kunstprojekt. 29 Künstler aus Oberbayern und aus Bali steuern Kunstwerke bei. Darunter sind Bildhauerin Sabine Beck und Grafik Desgnerin Lucie Plaschka aus Berg, die Gründerin der Reismühle-Ateliers in Gauting, Gudrun von Rimscha, und die indonesischen Fotokünstlerin Arahmaiani, die ihr Land schon auf der Biennale in Venedig vertreten hat.

Die Kunstwerke, die auf der Webseite des Vereins zu sehen sind, werden für je 400 Euro verkauft. Ein Teil des Erlöses geht an die Künstler, die von den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie in Deutschland wie auf Bali betroffen sind. Der andere Teil fließt in nachhaltige Entwicklungsprogramme.

Um die vor Ort anzuschieben, haben sich Flügels zu einem einschneidenden Schritt entschlossen: Sie kehren nach Bali zurück. Von August an wollen sie für drei Jahre auf der Insel leben. "Die Arbeit dort ist inspirierend und macht Sinn", findet Dian Flügel. Sie spricht von "Shareity statt Charity". Ihre Kinder, die in Biberkor lernen, können dort auf die internationale Montessorischule gehen. Ansonsten werden sie sich einschränken, Motorroller statt Auto. "Ja, es ist riskant. Aber wir müssen nicht alles zu Ende denken. Einfach machen", das ist Ernst Flügels Devise. Er hat schon eine Idee, wovon die Familie leben könnte - ein Boutique-Hotel eröffnen. Touristen ist die Einreise nach Bali allerdings weiterhin nicht gestattet.

Nähere Informationen unter www.chanceforchange.online

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SZ vom 31.05.2021
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