Flucht aus der Ukraine:"Ein Zimmer würde reichen"

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Olga Kondratiuk und ihre Kinder Tonja und Sergii fühlen sich wohl in Hechendorf und würden gerne bleiben, bis sie zurück in die Ukraine können. Nur: Sie finden keine Wohnung. (Foto: Nila Thiel)

Olga Kondratiuk ist mit ihren Kindern vor dem Krieg in der Ukraine nach Bayern geflohen. Vor den russischen Bomben sind sie sicher, aber nun finden sie keine Wohnung. Denn die sind knapp und kostspielig - erst recht in Starnberg, dem teuersten Landkreis des Freistaats.

Von Linus Freymark, Seefeld

Wenn man außen vor lässt, dass Olga Kondratiuk, Tonja und Sergii vor russischen Bomben geflohen sind, dass sie sich fast 2000 Kilometer von ihrer Heimat entfernt ein neues Leben aufbauen müssen und dass der Vater wegen des Krieges nicht bei seinen Kindern sein kann, könnte man sogar sagen: Es geht ihnen gut.

Die Drei haben im Seefelder Ortsteil Hechendorf Anschluss gefunden. Nachmittags geht Kondratiuk zum Deutschkurs, Sergii wird dann von den Nachbarn betreut. Ein Platz bei einer Tagesmutter wäre gut, aber für den Moment geht es auch so. Und Tonja ist gerade in die zweite Klasse gekommen und spricht so gut Deutsch, dass sie Einheimische verbessern kann. In den Sommerferien hat sie die Tage gezählt, bis sie endlich wieder in die Schule darf. "Sie lernt gerne Neues", erklärt Kondratiuk. "Und sie liebt ihre Lehrerin." Und ihre Mitschüler: Tonja knüpft gern neue Kontakte.

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Eigentlich also ist alles so gut, wie es eben sein kann, wenn man plötzlich fliehen muss, weil einen der Luftalarm aus dem Schlaf reißt und die Rauchschwaden der Bombentreffer durch das Schlafzimmer ziehen. Eigentlich - wäre da nicht das Problem mit der Wohnung.

Es gibt zu wenige Angebote

Kondratiuk erzählt von ihrer Suche nach einer neuen Bleibe auf ihrer Terrasse. Es ist ein lauer Spätsommerabend, Sonnenuntergangszeit. Kondratiuk hat Stühle zurechtgerückt, etwas zu trinken angeboten. Tonja und Sergii schauen vorbei, interessierte Blicke, ein kurzes Hallo. Dann entscheiden die beiden, doch lieber einen Zeichentrickfilm anzuschauen, als beim Gespräch dabei zu sein. Ihre Mutter verdreht die Augen. "Es wäre besser, wenn sie ein Buch lesen würden", sagt Kondratiuk. Aber an diesem Tag lässt sie die Kinder machen. Ab und an darf es auch mal ein Film sein.

Nach ihrer Ankunft in Deutschland haben die Drei recht schnell eine private Unterkunft in Hechendorf bekommen. Aber von Anfang an war klar: Auf Dauer können sie dort nicht bleiben. Also hat sich Kondratiuk bei der Wohnungsvermittlung des Landratsamts registrieren lassen. Aber die Angebote dort sind begrenzt, es gibt in der Region nicht genügend bezahlbaren Wohnraum. Starnberg ist gemessen an den Quadratmeterpreisen die teuerste Kreisstadt Deutschlands, in den umliegenden Gemeinden sieht es kaum besser aus - oder sogar noch schlechter. Das hat auch Kondratiuk bereits festgestellt. "Zu teuer", sagt sie. Diese Worte lernt man schnell auf Deutsch, wenn man neu im Land und im Großraum München auf Wohnungssuche ist.

Etwa 2000 Menschen aus der Ukraine leben derzeit im Kreis Starnberg. Davon stehen 279 Familien in einem regulären Mietverhältnis, die anderen werden vom Landratsamt untergebracht oder haben privat eine Bleibe gefunden. Doch nicht alle können dauerhaft in ihren Zimmern und Wohnungen bleiben, viele Arrangements waren übergangsweise, um die akute Not zu lindern. "Der Wohnraummarkt ist ziemlich ausgeschöpft", sagt Starnbergs Landrat Stefan Frey (CSU). Deshalb suchen ständig Menschen nach neuen Wohnungen - so wie Olga Kondratiuk.

In der Ukraine hat Kondratiuk als Apothekerin gearbeitet. Sie, Tonja und Sergii kommen aus Irpin, jenem Vorort von Kiew, in dem Teile der russischen Armee im März kaum vorstellbare Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung verübt haben. Am ersten Kriegstag, erzählt Kondratiuk, seien sie von Sirenen geweckt worden. Und weil Kondratiuk nicht verstehen wollte und konnte, dass auf einmal Krieg war, ist sie wie jeden Tag zur Arbeit in die Apotheke gegangen. "Ich wollte nicht fliehen", sagt sie. Aber wegen der Kinder ist sie doch gegangen. Ihre Mutter hat gepackt, am Abend ist Kondratiuk mit Sergii und Tonja los.

Ihr Mann, der Vater der beiden Kinder, darf wie alle Männer im wehrfähigen Alter die Ukraine nicht verlassen. Er ist noch immer in Irpin, leistet dort humanitäre Hilfe. Und auch, wenn Kondratiuk beim Erzählen gerne mal lacht, Tonja nach dem Film singend auf einem Fahrrad im Hof herumfährt, Sergii Fremde gerne erschreckt und sich diebisch freut, wenn es klappt - sie vermissen ihn.

Zum Oktober müssen sie, Sergii und Tonja etwas Neues finden, und weil sie in Seefeld soziale Kontakte haben, und Tonja in die örtliche Grundschule geht, würden sie nur ungern weg. "Ein Zimmer würde reichen", sagt Kondratiuk. Zwei wären noch besser, Tonja könnte dann ein eigenes bekommen. Aber Hauptsache, sie können bleiben.

Wegen der angespannten Immobilienlage haben vor Kurzem auch der Deutsche Städtetag und der Deutsche Landkreistag Alarm geschlagen. Viele Kommunen hätten ihre Kapazitätsgrenzen erreicht, so die Verbände, es brauche einen vom Bund einberufenen Flüchtlingsgipfel, um die Städte und Gemeinden zu entlasten. Frey begrüßt diesen Vorstoß. Weil der Regierungsbezirk Oberbayern seine Aufnahmequote derzeit nur noch knapp übererfüllt, rechnet der Landrat bald mit neuen Zuweisungen der Regierung nach Starnberg - erst recht, weil mit Beginn der kalten Jahreszeit wieder mehr Menschen aus der Ukraine fliehen könnten. Und auch aus anderen Ländern wie Syrien und Afghanistan werden neue Geflüchtete erwartet. Wie viele Menschen genau kommen, lässt sich nicht vorhersagen. "Die Situation ist unwägbar im Moment", sagt Frey. Aber klar ist: Der Bedarf an Wohnraum wird eher mehr als weniger.

Auch wegen der Kostenverteilung sieht Frey dringenden Gesprächsbedarf zwischen Bund und Kommunen. Denn Stand jetzt werden die Städte und Gemeinden auf einem Drittel der Unterbringungskosten für die Geflüchteten sitzenbleiben. "Das macht sich im Haushalt stark bemerkbar", erklärt Frey. "Der Bund macht sich da einen sehr schlanken Fuß."

"Das Wichtigste ist, dass der Krieg aufhört", sagt Kondratiuk. Und dass sie und ihre Kinder eine Bleibe in Seefeld finden

Bei der Vermietung von Wohnraum an ukrainische Geflüchtete gibt es derzeit drei Modelle. Option eins: Vermieter und Mieter werden vom Landratsamt zusammengebracht. Die Behörde akzeptiert dabei nur Wohnungen, die für mindestens ein Jahr vermietet werden. Die Geflüchteten sollen ankommen können, zudem soll das Landratsamt, das mit der Koordination sowieso schon am Anschlag ist, nicht ständig neu vermitteln müssen. Option zwei: die Geflüchteten können kostenlos wohnen, die Behörden zahlen dann eine Betriebskostenpauschale. Option drei: Die private Vermietung an Menschen aus der Ukraine. Die Miete würde dabei der zuverlässigste Gläubiger überhaupt, der Staat, übernehmen. 1029 Euro Brutto-Kaltmiete zahlt das Sozialamt für eine dreiköpfige Familie und maximal 75 Quadratmeter. In anderen Ecken Deutschlands würden sich Vermieter über solche Quadratmeterpreise freuen.

Katharina Braun (links) hat Olga Kondratiuk, Tonja und Sergii in Hechendorf kennengelernt. Wenn die Mutter beim Deutschkurs und die Schwester im Hort ist, passt sie immer mal wieder auf den kleinen Sergii auf. (Foto: Nila Thiel)

Helferkreise beobachten aber, dass viele Vermieter ungern langfristige Verträge mit Geflüchteten aus der Ukraine abschließen. Katharina Braun aus dem Hechendorfer Helferkreis, die auch Kondratiuk, Tonja und Sergii unterstützt, schlägt deshalb für den Anfang eines Mietverhältnisses kurzfristige Verträge vor. "Dann können sich beide Seiten kennenlernen und schauen, ob es passt", sagt sie. Danach könne der Vertrag verlängert werden. Bis auf eine Ausnahme habe sie nur positive Rückmeldungen bekommen. Viele der oft gut ausgebildeten Ukrainer würden sowieso planen, so bald wie möglich zurück in ihre Heimat zu gehen und beim Wiederaufbau ihres Landes zu helfen.

Auch Olga Kondratiuk will irgendwann zurück in die Ukraine und dort wieder als Apothekerin arbeiten. Gerne würde sie davor auch mal in eine deutsche Apotheke, sich anschauen, wie es hier läuft. "Aber das Wichtigste ist, dass der Krieg aufhört", sagt sie. Und dass sie ab Oktober eine Wohnung in Seefeld finden.

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