In der Wartehalle des Schondorfer Bahnhofs hängt derzeit die bebilderte Anleitung zum Bau eines Flugrads. Sie ist jedoch keineswegs als Lösungsvorschlag für die Probleme der Deutschen Bahn zu verstehen, sondern als Hommage an Gustav Mesmer, den „Ikarus vom Lautertal“. Schon vor zwei Wochen war die „Musik für Flugräder“ von Micha Acher und Maxi Pongratz in Schondorf zu hören, an diesem Freitag wird nun die von Erwin Kloker konzipierte und zusammen mit der Gustav-Mesmer-Stiftung realisierte Ausstellung im Bahnhof offiziell eröffnet.
Erwin Kloker hörte im vergangenen Dezember an der Supermarktkasse zum ersten Mal von Gustav Mesmer. Am Tag vor Weihnachten stand er dort zusammen mit Micha Acher in der Warteschlange, der ihm von seinem Musikprojekt erzählte. Und bis sie beide gezahlt hatten, waren Konzert und Ausstellung beschlossene Sache. Jetzt, ein Dreivierteljahr später, fühlt Kloker fast so etwas wie ein „Verwandtschaftsgefühl“ für den merkwürdigen schwäbischen Tüftler, Künstler und Erfinder Gustav Mesmer, der es sich in den Kopf gesetzt hatte, mithilfe einer von Muskelkraft angetriebenen Flugmaschine von Dorf zu Dorf zu fliegen.
Vieles, was Kloker mittlerweile über Mesmer gelesen hat, erinnert ihn an seinen eigenen Vater. Der sei nicht weit von Mesmers letztem Wohnort Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb zur Welt gekommen und nur ein Jahr jünger als dieser gewesen. Die sprichwörtliche schwäbische Sparsamkeit habe sich bei beiden unter anderem darin geäußert, dass sie in ihren „Mußestunden“ bereits benutzte krumme Nägel wieder gerade klopften. Gemeinsam sei beiden auch „die lebensbejahende Haltung“ gewesen und „die Fähigkeit, mit den widrigsten Umständen zurechtzukommen“, so Kloker. Das Leben des 1903 geborenen und 1994 verstorbenen Gustav Mesmer sei für ihn ein „Gesellschaftsbild des 20. Jahrhunderts“, sagt Kloker, er wolle ihn deshalb bei der Ausstellungseröffnung in einer Rede würdigen.
Mesmer wurde als sechstes von zwölf Geschwistern in Altshausen in Oberschwaben geboren. Wegen Krankheit musste er früh die Schule verlassen. Ab dem Alter von elf Jahren wurde er als „Verdingbub“ weggegeben, fortan arbeitete er gegen Kost und Logis auf wechselnden Gutshöfen. Er bewarb sich um Aufnahme im Benediktinerkloster Beuron, blieb sechs Jahre dort, durfte jedoch nicht die Profess ablegen. Zurück in Altshausen störte er 1929 eine Konfirmationsfeier in der Dorfkirche mit einer höchst unchristlichen Predigt. Kurz darauf wurde er in die psychiatrische Heilanstalt Schussenried eingewiesen – und blieb 35 Jahre dort. Bereits 1932 vermerkte man erstmals in seiner Krankenakte: „Hat eine Flugmaschine erfunden, gibt entsprechende Zeichnungen ab“.
Durch glückliche Umstände, vor allem aber wohl, weil er ein „tüchtiger Arbeiter“ war, blieb er während der NS-Zeit vor Zwangssterilisation und Transport in ein Vernichtungslager verschont. 1964 gelang es seinen Verwandten endlich, ihn in ein Altersheim nach Buttenhausen zu verlegen, wo er wohl die glücklichsten Jahre seines Lebens verbringen durfte – und endgültig zum „Ikarus vom Lautertal“ wurde. Er hatte eine kleine Werkstatt als Korbflechter und konnte in seiner Freizeit an seinen Flugmaschinen basteln, von denen sich zahlreiche Zeichnungen erhalten haben. Sonntags konnte man ihn dabei beobachten, wie er mit einem zum Fluggerät umgebauten Damenfahrrad seine Versuche machte. Einmal, so erzählte er später, sei er fast fünfzig Meter ins Tal hinunter geflogen, aber leider habe es niemand gesehen. Den Höhepunkt seiner Karriere als Erfinder erlebte Mesmer 1992, zwei Jahre vor seinem Tod, als eines seiner Flugfahrräder auf der Weltausstellung in Sevilla im Deutschen Pavillon gezeigt wurde.
Am Ende wird vielleicht auch der Bühnenbildner Erwin Kloker, der seit vielen Jahren zu den Protagonisten der Künstlerszene am Ammersee gehört, als „Ikarus von Schondorf“ in die Geschichte eingehen: Der 65-Jährige hat sich in seiner Werkstatt aus einem ehemaligen Bühnenrequisit ein Flugrad gebaut und ist ganz in die Rolle des Flugmaschinenerfinders Mesmer geschlüpft, mit dem er auch optisch durchaus Ähnlichkeit hat – und dessen schwäbischen Dialekt er perfekt beherrscht. Wie Mesmer elegant in Anzug und weißem Hemd gewandet, konnte man Kloker vor zwei Wochen schon einmal auf dem Flugrad die Schondorfer Bahnhofsstraße hinuntersausen sehen. Mittlerweile hat er dessen technische Ausstattung noch einmal nachgebessert. Und wer weiß, ob er nicht doch zur Ausstellungseröffnung den Berg hinaufsegelt, um dann sanft auf dem Bahnsteig zu landen.
Die Ausstellungseröffnung mit Buffet und Filmvorführung findet am Freitag, 16. August, um 18 Uhr im Bahnhof Schondorf statt.