Prozess um Doppelmord von Krailling:Verstörende Suche nach der Wahrheit

Die Brutalität der Tat macht selbst erfahrene Ermittler fassungslos: Thomas S. soll seine zwei kleinen Nichten in Krailling aus Habgier getötet haben, nun steht er in München vor Gericht. Am zweiten Prozesstag schildern Rettungsassistenten und Notärzte, was sie am Tatort erlebt haben.

Anna Fischhaber

Der Mann im roten Hemd ist zunächst gefasst, äußerst gefasst angesichts der Aussage, die er an diesem Mittwochmorgen vor dem Landgericht München II macht. "Im Kinderzimmer hat das erste Mädchen gelegen", sagt der Sanitäter am zweiten Tag des Prozesses um den Doppelmord von Krailling. Zunächst habe er versucht, seiner Kollegin und dem Polizisten bei der Wiederbelebung zu helfen - bis von hinten eine Stimme rief: "Schnell, da ist noch ein zweites Kind."

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Die Vorwürfe gegen den Angeklagten Thomas S. sind ungeheuerlich: Er soll seine beiden Nichten aus Habgier ermordet haben.

(Foto: dpa)

Im Schlafzimmer im Dachgeschoss findet er Chiara vor, acht Jahre alt. "Das Kind lag am Boden in einer großen Blutlache", sagt er. Sein erster Gedanke: "Viel Blut für ein Kind in dem Alter." Er versucht das Mädchen zu reanimieren, bis einer der Notärzte um kurz nach fünf Uhr den Tod feststellt. Der Richter bittet ihn nach vorne an seinen Tisch. Dort liegen Fotos vom Tatort. "Waren Sie schon öfter mit Fällen dieser Art befasst?", fragt er. "Nein, nein, also nein", sagt der Sanitäter nun und stammelt plötzlich ein wenig.

Auch seine junge Kollegin muss immer wieder schlucken, mit leiser Stimme berichtet sie von ihren verzweifelten Rettungsbemühungen. Als sie zur Beleuchtung am Tatort befragt wird, sagt sie: "In so einer Situation schaut man doch nicht, ob das Licht funktioniert." Notarzt Wolfgang Viehbeck sagt: "Offensichtlich hat das kleine Mädchen einen verzweifelten Todeskampf geführt." Ein anderer Notarzt erinnert sich vor allem an die Fassungslosigkeit - die der Mutter und seine eigene.

Es ist die Brutalität des Täters, die selbst erfahrene Einsatzkräfte fassungslos macht - auch knapp zehn Monate nach der Tat. Die Anschuldigungen gegen den Angeklagten Thomas S. sind ungeheuerlich: Er soll am 24. März 2011 seine zwei Nichten mit Messer, Hantel beziehungsweise Seil heimtückisch ermordet haben.

In der Anklageschrift heißt es, der Postzusteller habe kurz vor der Tat erfahren, dass er finanziell am Ende sei. Für die Staatsanwaltschaft ist dies das Motiv für den Doppelmord. Der damals 50-Jährige soll demnach beschlossen haben, seine Schwägerin Anette S. und deren Töchter zu töten, um an das Geld der Familie zu kommen. Nur weil seine Schwägerin so spät nach Hause kam, sei sie dem Mordanschlag entgangen.

Thomas S. schweigt

Doch trotz dieser Anschuldigungen scheint sich Thomas S. auf der Anklagebank nicht unwohl zu fühlen - auch wenn er blass ist und sich immer wieder die Augen reibt. Interessiert verfolgt er die Schilderung der Zeugen, schreibt immer wieder mit oder flüstert seinen Anwälten vor sich oder den Polizisten hinter sich etwas zu. Es wirkt ein wenig so, als wäre nicht er derjenige, der diese Tat begangen haben soll.

Allerdings lächelt er an diesem zweiten Prozesstag deutlich weniger als noch am Vortag. Erst als ein Notarzt von den blutigen Wiederbelebungsmaßnahmen berichtet, wird er lebhafter und wendet den Blick Richtung Zuschauerraum. Als auf der Richterbank Akten herunterfallen, schüttelt er den Kopf und verzieht das Gesicht.

Gesagt hat er bislang nichts. Am ersten Prozesstag teilte sein Anwalt mit, sein Mandant werde sich zunächst nicht zu den Vorwürfen äußern. Später vielleicht. Gesehen hat den Mörder in jener Nacht im März in Krailling niemand. Die Staatsanwaltschaft ist sich dennoch sicher: Der Postzusteller ist der Täter. Doch schweigt Thomas S. weiter, wird das Gericht in mühevollster Kleinarbeit versuchen müssen, hinter die verstörende Wahrheit zu kommen.

Fingerabdruck belastet Onkel

Wichtiges Beweismittel der Anklage sind neben DNA-Spuren zwei Fingerabdrücke des Angeklagten. Der Abdruck seines rechten Daumens sei zweifelsfrei auf einer Batterie aus einer Taschenlampe identifiziert worden, die in der Wohnung gefunden wurde, sagt der Sachverständige Peter Immerz vom Bayerischen Landeskriminalamt am Mittwoch im Gericht. Und der Abdruck seines linken Zeigefingers sei auf der Rückseite eines Baumarkt-Kassenzettels für einen Strick entdeckt worden. Mit dem Strick soll der Täter Chiara gewürgt haben.

Immer wieder werden den Zeugen auch Fotos der toten Mädchen gezeigt, immer wieder werden die Sanitäter nach den Spuren, die sie am unübersichtlichen Tatort hinterlassen haben, befragt. Zum ersten Mal meldet sich an diesem Mittwochvormittag auch Anwältin Annette von Stetten zu Wort. Sie vertritt die Mutter der beiden Mädchen, die als Nebenklägerin an dem Prozess teilnimmt, persönlich aber bislang nicht in Erscheinung trat. Von Stetten interessiert sich vor allem für den Kontakt der Ärzte zu den Eltern und wer wem die Todesnachricht überbracht hat.

Bereits am Dienstag hatte die Spurensicherung einen detailreichen 3-D-Überblick über den Tatort gegeben. Die junge Beamtin gab sich bei ihrer Aussage betont sachlich. Präzise führte sie das Gericht durch die Wohnung der Familie, bunt und auch ein wenig chaotisch. Präzise beantwortete sie die Fragen zur Beleuchtung und zur Raumaufteilung, aber auch zu den "Blutantragungen", die überall zu sehen sind. Mit ihrer Präzision hielt sie sich offenbar den Schrecken vom Leib.

Ihr Kollege von der Streifenpolizei kam in Uniform, sie wirkte wie eine Rüstung. "Manchmal möchte man nur schreien", sagte er, bevor er seine Aussage machte. Der Hauptkommissar vom Kriminaldauerdienst wirkte älter und erfahrener. "Wir machen so etwas schon lange und haben viel mit unschönen Suiziden zu tun", erklärte er. Aber dann auch: "Das hier war für uns kein alltägliches Bild." Am Mittwochnachmittag sollte ein medizinischer Sachverständiger aussagen.

63 Zeugen sind in dem Prozess insgesamt geladen. Unter ihnen auch Ursula S., die Ehefrau des Angeklagten, und ein Mithäftling von Thomas S., dem er die Tat angeblich gestanden hat. Am dritten Prozesstag Ende Januar wird dann auch die Mutter, die Sharon und Chiara zu Hause gefunden hat, in den Zeugenstand treten. Anette S. muss dann dem mutmaßlichen Täter, ihrem Schwager, gegenübertreten. Ihre Anwältin will dafür den Ausschluss der Öffentlichkeit beantragen.

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