Süddeutsche Zeitung

Flucht aus der Ukraine:"Für den restlichen Kilometer brauchten wir acht Stunden"

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Eine Mutter und ihre Tochter aus Lwiw fliehen zu Verwandten nach Pöcking. An der polnischen Grenze sind sie normalerweise innerhalb einer Stunde. Nun verbrachten die beiden zwei Nächte lang in einem überfüllten Bus.

Von Christian Deussing, Pöcking

Der Cousin der Ukrainerin Ljubjov Sagan aus Pöcking hat gerade noch zwei Fahrkarten für einen Bus ergattert, der seine 43-jährige Ehefrau und die 16 Jahre alte Tochter zur polnischen Grenzstadt Korczowa bringen soll. Die 70 Kilometer lange Fahrt dauert für die beiden Kriegsflüchtlinge aus Lwiw (Lemberg) zwei Tage statt eine Stunde. Der 49-jährige Familienvater und sein 24-jähriger Sohn sind im wehrfähigen Alter und müssen zurückbleiben.

In der Nacht zum Montag, um 3 Uhr, sind Mutter und Tochter, die beide Natalie heißen, in Pöcking angekommen. Vladimir Ostash, der mit seiner Frau Ljubjov und zwei Kindern in Pöcking lebt, hat die erschöpften Verwandten an der polnischen Grenze im Auto abgeholt. Sie haben nur zwei Koffer und zwei kleine Rucksäcke dabei, aber sie sind nun vor den russischen Bomben in Sicherheit.

Jetzt sitzen die Flüchtlinge auf der Couch in der 90 Quadratmeter großen Wohnung in dem Pöckinger Mehrfamilienhaus. Sind müde und blass, vor allem die Mutter hat tiefe Augenringe. Noch vorigen Mittwoch glaubten sie, dass der russische Präsident Wladimir Putin ihre Heimat nicht überfallen würde. "Dann hörten wir den ersten Fliegeralarm, doch unsere Wohnung hat keinen Keller", erzählt die Diplom-Psychologin leise und traurig. Zudem befinde sich ihr Haus in der Nähe einer militärischen Einrichtung. Es war das Signal zur schnellen Flucht aus Lwiw, wo sich ihre Tochter gerade an einer deutschen Schule auf ihr Abitur vorbereitete und nun auch jäh aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen wurde.

Sie pressen sich am Freitag in einen Reisebus in Richtung Polen, mit fast hundert anderen Flüchtlingen - Frauen, Jugendlichen und Kindern. Zwei Nächte müssen sie in dem überfüllten Bus schlafen, soweit überhaupt möglich. "Es war schrecklich und bedrückend", sagt die Schülerin Natalie. Bei den letzten 25 Kilometern stehen sie im Stau, es geht nur im Schneckentempo voran. "Für den restlichen Kilometer brauchten wir acht Stunden."

Plötzlich schrillt das Handy neben dem Sofa in Pöcking. Die Mutter nimmt es sofort in die Hand - es ist ihr Mann. Er wird in Lwiw gebraucht, muss aber bisher nicht zur Waffe greifen und kämpfen. Der Ukrainer wird in der Stadt für die Abwehr benötigt. Sein Sohn unterstützt die Bürgerwehr und entfernt Markierungen von möglichen militärischen Zielobjekten russischer Bomber an Krankenhäusern, Schulen, öffentlichen Gebäuden und Brücken.

In Lwiw wohnt auch die 50-jährige Schwester von Ljubjov Sagan. Sie sei eine ehemalige Nonne, schaue kein Fernsehen und verfolge nichts in den Nachrichten, berichtet die Wahl-Pöckingerin, deren Eltern bereits vor längerer Zeit gestorben sind. Nun kümmere sich der Sohn der Vermieterin um ihre Schwester in der Ukraine. Doch die 72-Jahre alte Mutter von Vladimir Ostash lebt noch in einem Plattenbau in Stryj, einer 60 000-Einwohner-Stadt südlich von Lwiw. Er hält den Kontakt zu ihr - was bei anderen Verwandten und Freunden in der Nähe von Kiew immer schwieriger wird.

Jedes Nachrichtenschnipsel und vor allem Lebenszeichen wird wissbegierig und angstvoll aufgesogen

Ständig versuchen das Ehepaar und ihre Angehörigen etwas Neues aus ihrer umkämpften Heimat zu erfahren. Im Internet, auf Facebook und Twitter, jedes Nachrichtenschnipsel und vor allem Lebenszeichen wird wissbegierig und angstvoll aufgesogen. Die geflüchtete Mutter zeigt Bilder von einem Keller eines Lemberger Waisenhauses, zu sehen sind verstörte Blicke von Kindern in Betten. Es ist bedrückend und furchtbar. Der einzige, der in der Familie noch entspannt wirkt, ist der Labrador-Mischling "Hutsch": Der Hund liegt mit ausgestreckten Pfoten behaglich in der Sofaecke.

Mit dem Vierbeiner gehen sie in Pöcking spazieren oder unternehmen einen kleinen Ausflug zum Maisinger See. "Ein bisschen Ablenkung tut gut, das ist wichtig bei diesem enormen Druck", sagt Vladimir Ostash. Der selbständige Handwerker versucht kommendes Wochenende, mit seinem Transporter Hilfsgüter nach Polen an die ukrainische Grenze zu bringen. Auch seine Frau engagiert sich, dolmetscht und will jetzt eine weitere Hilfsaktion mit organisieren.

Wie soll es aber nun weitergehen? Ostash will versuchen, für die 43-jährige Verwandte aus Lwiw eine Arbeit zu vermitteln und für deren Tochter einen Platz an einer Schule. Auch ein Privatquartier wird gesucht, denn noch müssen die Verwandten im Wohnzimmer schlafen. Sie seien schon jetzt von der Hilfsbereitschaft der Bevölkerung überwältigt und dafür dankbar. Sie wollen selbst auch Landsleuten helfen, sagt die Familie. Diese große Unterstützung hätten sie bereits an der polnisch-ukrainischen Grenze gespürt, betonen die beiden Natalies - und nun huscht doch noch ein Lächeln über ihre traurigen Gesichter.

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