Pöcking:Den Tätern ein Gesicht gegeben

Lesezeit: 2 Min.

Zehntausende Entnazifizierungsbögen gesichtet: Marita Krauss und ihr Ehemann Erich Kasberger. (Foto: Georgine Treybal)

Zwei Historiker legen ein differenziertes Buch über die Nazi-Zeit in ihrer Heimatgemeinde vor

Von Sylvia Böhm-Haimerl, Pöcking

Auch mehr als 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Zeit im Nationalsozialismus für viele Menschen noch ein Tabuthema, gerade auf dem Land, wo jeder jeden kennt. "Diese Scham wird oft von den Nachfolgegenerationen weitergeführt", sagt die Pöckinger Historikerin und Lehrstuhlinhaberin an der Uni Augsburg, Professor Marita Krauss. Als sie von ihrer Heimatgemeinde vor zwei Jahren gefragt wurde, ob sie die Dorfgeschichte Pöckings von 1930 bis 1950 untersuchen könne, hatte sie daher zunächst Bedenken.

Krauss wohnt seit ihrem zweiten Lebensjahr direkt neben dem Anwesen von Michael Ruhdorfer, dem Pöckinger Bürgermeister während der NS-Zeit. Der Bauernhof ist in den Besitz seiner Tochter, der Ehrenbürgerin Eva Grenzebach, übergegangen. Krauss wollte das bislang sehr gute nachbarschaftliche Verhältnis nicht aufs Spiel setzen. Doch Bürgermeister Rainer Schnitzler war überzeugt: Es gehe nicht darum, jemanden anzuklagen, sondern darum, die Geschichte wissenschaftlich aufzuarbeiten. Vor dem Hintergrund des aktuellen Rechtsrucks sei es wichtiger denn je, sich an die Geschichte zu erinnern und aus ihr zu lernen. Er konnte Krauss, die am NS-Dokumentationszentrum München mitgearbeitet hatte und derzeit ein Buch über Nazi-Karrieren schreibt, sowie ihren Ehemann Erich Kasberger, der ebenfalls Historiker ist, für das Projekt gewinnen. 34 000 Euro hat die Gemeinde für das Buch zur Verfügung gestellt, davon wurden 20 000 Euro von Sponsoren finanziert. Herausgekommen ist ein knapp 400 Seiten dickes Werk, in dem die Geschichte Pöckings sehr differenziert betrachtet wird. Am Samstag wurde das im Volk-Verlag erschienene Buch "Ein Dorf im Nationalsozialismus" im Beccult vorgestellt. Die etwa 150 Besucher zeigten großes Interesse.

"Es hat viel Mut gekostet, in die NS-Zeit unseres Dorfes einzusteigen", sagte Krauss. Die Historiker haben "eine Fülle von Quellen" aus verschiedenen Kommunen durchgearbeitet, um erstmals eine belastbare Studie zu erarbeiten über die NSDAP-Mitgliedschaften in der Stadt und auf dem Land. Ihr Fazit: In Städten waren Parteimitgliedschaften viel häufiger als auf dem Dorf ,und Katholiken waren seltener darunter als evangelische Gläubige. Die Autoren befragten Zeitzeugen und sichteten viele Fotos. Etwa 50 000 Entnazifizierungsbögen wurden durchgearbeitet und alle NS- und SS-Angehörige einzeln überprüft. Demnach hatten sich in Pöcking drei KZ-Aufseher aufgehalten, darunter der berüchtigte "Henker von Buchenwald", Martin Sommer. "Wir wollten den Tätern ein Gesicht geben", erklärte Kasberger. 600 Spruchkammerakten hat Krauss durchgearbeitet, auch die von Bürgermeister Ruhdorfer. "Das Beispiel dieses Dorfbürgermeisters macht deutlich, dass gerade in der NS-Zeit nicht Schwarz und Weiß, sondern viele Grauschattierungen den Alltag bestimmen", schreiben die beiden Forscher. Laut Krauss übte Ruhdorfer seine NS-Ämter alle aus und hatte auch ein gutes Verhältnis zum NS-Kreisleiter und Starnberger Bürgermeister Franz Buchner. Gleichzeitig schützte er nachweislich die jüdischen Dorfbewohner. Krauss: "Es war eine Doppelrolle, die er gespielt hat."

Die Historiker haben auch das Kriegsverbrechen untersucht, das es während der dreiwöchigen französischen Besatzungszeit gegeben hatte. Ein Kapitel widmen sie Schloss Possenhofen und der Barackenstadt auf der Schlosswiese, von dem heute noch die Küchenbaracke steht. Krauss: "Es ist ein Ort, wo sich Geschichte materialisiert."

Einen Vortrag zum Thema "Von Bauern und Villenbesitzern im Nationalsozialismus" gibt es am 12. Dezember, 19.30 Uhr, in der Gemeindebücherei.

© SZ vom 09.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: