Süddeutsche Zeitung

Performance:Flucht aus der Zuvielisation

Der Künstler Jonas Beutlhauser beleuchtet im Garten der Starnberger Villa Mussinan die Wirrwarrwelt des Wortschöpfers Gusto Gräser

Von Katja Sebald, Starnberg

Die "Juni-Spiele", die unter dem Motto "schön jung" insbesondere jüngeren Künstlern ein Forum bieten, finden in diesem Jahr zum fünften Mal statt. Zum Auftakt dieses kleinen Jubiläums öffnete die Starnberger Kulturveranstalterin Elisabeth Carr ihren eigenen Garten als neuen "Kunstraum am See". Die von ihr bewohnte historische "Villa Mussinan" sei für sie ein Symbol des Aufbruchs und des Ankommens, sagte sie zur Einführung. Immer wieder aufbrechen und doch niemals ankommen - so könnte man das Leben von Gusto Gräser überschreiben, dem der junge Kunstpädagoge und Künstler Jonas Beutlhauser die Performance "Wirrwarrwelt und Wonnewunderkugel" widmete.

Das Leben des Naturapostels und Wortschöpfers Gusto Gräser, der Vegetarismus und Pazifismus predigte und zusammen mit seinem Bruder Karl zu den Gründern der Reformsiedlung Monte Verità bei Ascona gehörte, später eine schillernde Randfigur der Münchner Räterevolution war und zuletzt völlig verarmt in Freimann starb, diente sozusagen als Ausgangspunkt für eine spielerische Versuchsanordnung über die Frage, wie der Aufbruch in ein sinnhaftes Leben für einen jungen Menschen von heute aussehen könnte.

Beutlhauser, 1990 in Straubing geboren, ist der Lebensgefährte und künstlerische Partner der mehrfach ausgezeichneten Künstlerin Elena Carr, die in Starnberg aufgewachsen ist. Wie sie beschäftigt auch er sich in seiner künstlerischen Arbeit mit sozialen Fragestellungen, die Grenzen zu seinen kunstpädagogischen Projekten sind dabei fließend. Mit Elena Carr entwickelte er nicht nur manche der wundersam analogen Objekte, die bei seiner Performance zum Einsatz kamen, sondern auch einige Texte. So entstand etwa die Geschichte von den Starnberger Gymnasiasten, die sich auch mit dem Reifezeugnis in der Hand nicht aus ihrem paradiesischen Kosmos am See lösen können und sich deshalb seit Jahren im Keller der Schule stapeln.

Was aber wäre, wenn man sich doch trauen würde und selbst aufbrechen würde, um wie Gräser der "Zuvielisation" zu entfliehen? Die Grenzen, an die man stoßen könnte, zeigte Beutlhauser auf Spruchbändern und Textrollen auf, die so lang waren, dass man darauf sogar den dünnsten Polizisten der Welt darstellen konnte, der wohlgemerkt nur der dünnste, nicht der dümmste war. "Durch, das ist der Hecke Zweck", lautet ein Zitat von Gräser. Er wolle unter allen Umständen ein Individuum sein, kein Plural, so sein Lebensmotto. Wo man versuchte, ihn zu reglementieren, brach er alle Brücken hinter sich ab. Mit Hermann Hesse lebte er eine Weile gemeinsam in einer Höhle. Später wurde der eine ein vergessener Dichter und der andere ein berühmter Dichter, der einen Brief des einstigen Freundes nicht mehr beantwortete.

Gräser selbst, Oskar Maria Graf und andere Zeitgenossen kamen zu Wort. Das Herbert Achternbusch zugeschriebene Zitat "Ich möchte das erste Huhn sein, das über den See fliegt", hatte Beutlhauser nicht nur auf einer seiner bezaubernden Bildtafeln illustriert, er hatte auch drei lebende Hühner mitgebracht, von denen zum Glück keines auf die Idee kam, über den See zu fliegen. Auch Josef Bierbichler, der einst mit Schlittschuhen über den zugefrorenen See "flog" und in der Mitte notgedrungen eine Pause machte, fand mit seiner berühmt gewordenen deftigen Anekdote Erwähnung.

Und so fügte Beutlhauser immer wieder das Bildhafte und das Anekdotenhafte, das Spielerische und das Erzählerische. Er drehte an Kurbeln, zog Spruchbänder aus dem Mund, stach ein Stück Grasnarbe aus, schaufelte Bruchstücke der Erinnerung in einen Kübel, verteilte Flugzettel und hielt den Zuschauern mit einem an einen langen Ast montierten Handy einen Spiegel vor. Für die "Special Effects" bei diesem merkwürdigen Moritatenspiel in der Gartenidylle sorgten die direkt hinter dem Zaun vorbeiratternden Züge und die verschiedenen Klingeltöne der Handys im Publikum. Der Regen hingegen wartete genau bis zum Ende der Performance, um dann alle nach drinnen ans - natürlich vegetarische - Büffet zu scheuchen.

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Quelle:
SZ vom 24.06.2019
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