Sie habe aus dem Radio erfahren, dass ihr Großvater berühmt sei, sagte Ricarda Glas einmal in einem Interview: Der Schriftsteller Oskar Maria Graf feiere im Exil seinen 60. Geburtstag. Dieser Satz hatte sich seiner damals zehnjährigen Enkelin tief ins Gedächtnis eingegraben. Sie habe erst 1994 zu seinem 100. Geburtstag aus der Süddeutschen Zeitung erfahren, dass ihr ehemaliger Nachbar in New York berühmt war, berichtete nun Ann Katherine Skea am Freitagabend im Museum Starnberger See: Mit „Living next door to Mr. Graf“ hatte Museumsleiter Benjamin Tillig das Gespräch mit der Zeitzeugin überschrieben.
Er habe vor einiger Zeit eine Besuchergruppe durch die Ausstellung „Oskar Maria Graf. Dichter und Antifaschist vom Starnberger See“ geführt, erzählte Tillig, und dabei vor einem Foto vom Wohnort des Schriftstellers in der Hillside Avenue Nr. 34 in New York City berichtet. „Apartment 6 e“, hatte eine Dame höflich, aber bestimmt ergänzt – und ihn damit beinahe aus dem Konzept gebracht. Woher sie das wisse, habe er im Anschluss gefragt. „Ich bin gegenüber groß geworden, im Apartment f“, antwortete Ann Katherine Skea, die heute in Moosburg an der Isar lebt.
Sie entstamme einer „multikulturellen“ Familie, die über London nach New York emigriert war, berichtete die Zeitzeugin. 1954 in New York geboren, wohnte sie die ersten zehn Jahre ihres Lebens Tür an Tür mit „Herrn Graf“, wie sie ihn noch heute nennt. Ihre Mutter, die als Krankenschwester arbeitete und Deutsch sprach, stand in freundschaftlichem Kontakt zu den Nachbarn. Kurz vor dem Tod seiner Frau Mirjam, die 1959 an Krebs starb, habe Graf einmal sehr verzweifelt an der Tür geläutet und die Mutter um Hilfe gebeten. Auch an Gisela Graf, die er 1962 heiratete, erinnert sich Skea: „Wir Kinder durften sie Gisela nennen, das war damals sehr ungewöhnlich.“
In der Hillside Avenue im Norden von Manhattan, vor allem aber im nahen Stadtteil Yorkville, der schon seit dem 19. Jahrhundert bevorzugte Wohngegend von deutschstämmigen Einwanderern ist, hatten sich in den Dreißigerjahren viele deutsch-jüdische Emigranten niedergelassen. Auch in den Fünfziger- und Sechzigerjahren habe es dort noch viele Menschen gegeben, die nicht über ihre Vergangenheit und über ihre Familiengeschichte sprechen wollten, erläuterte Skea. „Die meisten meiner Freundinnen hatten Eltern aus Deutschland oder Österreich, manche sprachen zu Hause Hebräisch, aber man fragte nicht: Woher kommst Du?“ Sie selbst antwortet noch 2024 auf die wiederholten Fragen aus dem Publikum nach ihrer Herkunft lediglich: „Es ist kompliziert.“ Sie verweist auf Grafs Roman „Die Flucht ins Mittelmäßige“, in dem er das Leben der Emigranten in New York beschreibt.
Die Wohnung, die Graf von 1939 an bis zu seinem Tod im Jahr 1967 bewohnte, sei etwa 50 Quadratmeter groß gewesen. Es habe eine Küche, ein Wohnzimmer und ein Schlafzimmer gegeben, erinnert sich Skea. Ihre vier Jahre ältere Schwester sei oft bei Gisela Graf zu Besuch gewesen. Die Wohnungen im sechsten Stock des Apartmenthauses aus den Dreißigerjahren seien in den Sommermonaten sehr heiß gewesen, es gab keine Klimaanlagen. Sie selbst habe „Herrn Graf“ öfter im Aufzug getroffen. Er habe kaum Englisch gesprochen und sie nicht Deutsch, seine Scherze habe sie trotzdem verstanden. Gelegentlich habe er einen Kasten Bier in seine Wohnung getragen, die sich auf der linken Seite am Ende des langen Gangs befand, sie selbst habe genau gegenüber auf der rechten Seite gewohnt.
„Ich kann mich nicht erinnern, ihn in Lederhose gesehen zu haben.“
Für die größte Überraschung aber sorgte wieder einmal Grafs legendäre Lederhose: Sie sei für ihren Großvater ein symbolisches Kleidungsstück gewesen, hatte Enkelin Ricarda Glas gesagt. Ob es wirklich wahr sei, dass er sie in New York „immer“ getragen habe, wurde Skea am Freitagabend gefragt. „Ich kann mich nicht erinnern, ihn in Lederhose gesehen zu haben“, sagte die Zeitzeugin. Wenn er an heißen Tagen mit dem Bierkasten auf der Schulter nach Hause kam, habe er öfter nur ein weißes Rippenstrickunterhemd zur langen Hose angehabt. Und dieses Bild dürfte sich wohl den meisten Besuchern wie eine Fotografie ins Gedächtnis gebrannt haben.
„1964 sind wir umgezogen“, berichtete Skea, „meine Mutter und er sind trotzdem in Kontakt geblieben – es war eine Art Vater-Tochter-Beziehung.“ Eines Tages im Sommer 1967 sei ihre Mutter aufgebrochen, um „Herrn Graf“ zu besuchen, sie hatte gehört, dass er im Krankenhaus lag. Sie sei mit verweinten Augen nach Hause gekommen: „Herr Graf ist gestorben“, habe sie zu ihrer Tochter gesagt.
Die Ausstellung „Oskar Maria Graf. Dichter und Antifaschist vom Starnberger See“ ist bis zum 8. September verlängert worden. Das Museum Starnberger See ist von Mittwoch bis Freitag von 14 bis 18 Uhr, samstags, sonntags und an Feiertagen von 11 bis 18 Uhr geöffnet.