Süddeutsche Zeitung

Wissenschaft:Die Vermessung der Gletscher

Forscher in Oberpfaffenhofen überwachen per Satellit die Eisschmelze in der Antarktis und gewinnen dabei wichtige Erkenntnisse.

Von Patrizia Steipe

Von "ewigem Eis" ist schon lange nicht mehr die Rede. Die Gletscher schmelzen unaufhaltsam. Schlechte Nachrichten hat das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) aus der Westantarktis mitgebracht. Die Region am Südpol gilt als besonders stark vom Klimawandel gefährdet. Dort schmelzen der Pope-, Smith- und Kohler-Gletscher schneller als erwartet. Die drei gehören zum westantarktischen Eisschild mit seinem vorgelagerten Schelfeis. Die Gletscher schmelzen nicht nur an der Oberfläche, sondern unerwartet schnell an der frei schwimmenden Unterseite. Das DLR hat diese Veränderungen gemeinsam mit internationalen Forschungspartnern mithilfe von Radardaten aufgedeckt.

Die Wissenschaftler haben beim Smith-Gletscher herausgefunden, dass die Schmelzrate an der Unterseite mit 22 Metern mehr als das Vierfache vom Rückgang an der Oberfläche betrug. "An bestimmten Stellen wies Smith sogar Schmelzraten von mehr als 100 Metern pro Jahr auf, mit einem Spitzenwert von 140 Metern im Jahr 2016", heißt es in der Meldung des DLR.

In der aktuellen Studie, an der außer dem Oberpfaffenhofener DLR-Institut für Hochfrequenztechnik und Radarsysteme auch die Universitäten in Houston, Kalifornien, Grenoble und die italienische Raumfahrtagentur ASI beteiligt waren, waren die Unterseiten der drei Gletscher untersucht worden. Da sie nicht sichtbar sind, war der Eisverlust unter Wasser bislang schwer messbar. Dank digitaler Höhenmodelle konnten die Wissenschaftler den Schwund nun genau bestimmen.

Um die Daten für die Höhenmodelle zu bekommen, umkreisen die vom DLR-Raumfahrtkontrollzentrum aus gesteuerten Satelliten "Tandem X" und "Cosmo Skymed" in etwa 500 Kilometern Höhe die Erde und tasten dabei die gesamte Oberfläche mit Radargeräten ab. So kann ein exaktes, dreidimensionales Bild mit einer hohen Dichte an Messpunkten erzeugt werden. Aufgezeichnet werden die Radardaten vom Deutschen Fernerkundungsdatenzentrum an seinen Empfangsstationen in Neustrelitz, Inuvik (kanadische Arktis) und Gars O'Higgins (Antarktis).

"Früher mussten wir jahrelang warten, bis wir endlich verwertbare Daten zu den Polregionen hatten", erinnert sich DLR-Gastwissenschaftler Pietro Milillo. Dazu kam, dass sich die Wissenschaftler mit groben und lückenhaften Höhenmodellen aus unterschiedlichen Datenquellen begnügen mussten. Sie waren oft schwer vergleichbar, weil sie mit unterschiedlichen Messverfahren erhoben wurden. Dank der Hightech-Satelliten können Veränderungen in der Antarktis im Zwei-Wochen-Takt erfasst werden.

Forscher beobachten die Entwicklung in der Westantarktis seit Jahrzehnten mit Sorge. Vor allem die gigantischen Thwaites- und Pine-Gletscher stehen im Fokus. Falls ihre Eismassen komplett abschmelzen, könnte der globale Meeresspiegel um bis zu 1,2 Meter ansteigen. Weltweit würden viele Inseln und Uferregionen im Wasser versinken. Seit etwa 30 Jahren bemerken die Experten aber auch, dass die Gletscher Pope, Smith und Kohler dünner geworden sind, Schelfeis verloren haben und sich zurückgezogen haben.

"Auffällig war der Rückgang der Aufsetzlinie, also die Grenze, an der das Eis den Kontakt zum Festland verliert und beginnt, auf dem Meer zu schwimmen", berichten die DLR-Wissenschaftler. Daher richteten sie ein Augenmerk auf diesen Übergangsbereich. So konnten sie exakt die drastischen Veränderungen des Pope-Gletschers nachweisen. Er hatte sich vor fünf Jahren innerhalb von nur drei Monaten mit einer Geschwindigkeit von 11,7 Kilometern pro Jahr zurück gezogen. Außerdem sind zwischen 2011 und 2019 fünf Meter von der Oberfläche abgeschmolzen. Für die Bestimmung der Abschmelzraten wurden am DLR mehr als 240 digitale Höhenmodelle erzeugt, die die Westantarktis "hochgenau abbildeten", erklärte Paola Rizzoli vom DLR-Institut für Hochfrequenztechnik und Radarsysteme.

Da die Schmelzprozesse bei allen Gletschern um die Amundsen-See ähnlich ablaufen dürften, können die aktuellen Ergebnisse jetzt von den Gletscherforschern für ihre Prognosen verwendet werden. In Klimamodellen könne dadurch berücksichtigt werden, wie stark eine schwimmende Eisplatte von unten schmilzt. Dadurch könnte der Rückgang von Gletschern exakter bestimmt werden, genauso die Höhe, in der der Meeresspiegel ansteigen werde. Daraus müssten dann geeignete Konsequenzen abgeleitet werden.

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