Nein, Fuchs und Has' sagen sich hier nicht gute Nacht. Aber Dachs, Wildschwein, Baummarder oder Bilch könnte Meister Reineke auf dem Grundstück von Mario Kessler und dessen Frau Eva Krehle schon begrüßen. Am westlichen Ortsende von Riederau ist in nur fünf Jahren ein kleiner Garten Eden entstanden, dessen Artenreichtum auf nur 1500 Quadratmetern Fläche in gemäßigten Breiten kaum zu übertreffen sein dürfte. Das äußert sich nicht nur in Besuchen der größeren Waldbewohner, sondern vor allem in der Vielfalt kleiner Wesen, die im Garten ihren Lebensraum gefunden haben - also dort nicht nur gelegentlich fressen, sondern sich auch paaren und vermehren. Jeder zweite Lurch und neun von 13 Kriechtieren sind auf der Roten Liste als gefährdet aufgeführt. Von den nur 33 inländischen Amphibien- und Reptilienarten finden sich auf dem "Im Waldwinkel" genannten Areal zehn. Das darf als herpetologische Sensation gelten.
Schon zur Begrüßung der Besucher ertönt vom Gartenteich her lautes Quaken. "Das ist Nepomuk, unser Teichfrosch", stellt Kessler vor. Der werde als Solist geduldet - in großer Zahl sollte sich die Art aber nicht etablieren, findet der 75-Jährige. Schließlich könnten die relativ häufigen Teichfrösche in Konkurrenz zu schutzbedürftigeren Arten treten, die im großen, bis zu drei Meter tiefen Gartenteich ablaichen - wie etwa Gras- und Laubfrosch, Kröten sowie mehrere Molch- und Libellenarten. Außer deren Larven tummeln sich darin noch heimische Flusskrebse, Gründlinge, Regenbogenelritzen, Moderlieschen und Bitterlinge - samt den Teichmuscheln, auf die letztere zur Fortpflanzung angewiesen sind. Drei junge Ringelnattern schlängeln auf der Wasseroberfläche umher oder aalen sich auf Teichrosen: Die nur unterarmlangen Reptilien bewegen sich so anmutig, dass sogar die Zeitungsfotografin ihre Schlangenphobie überwindet.
Auffällig ist auch, dass die stark bedrohten Gelbbauchunken im Naturgarten in fast dreistelliger Zahl vorkommen und sich rege vermehren. Kessler hat über diese Art, deren Bestand in den Pfützen der intensiv bewirtschafteten Wälder rasant schwindet, eine spezielle Ausbildung mit Abschlussprüfung absolviert. Er fängt eine der schlammbraunen, runzeligen Unken. Das streichholzschachtelgroße Tier verfällt plötzlich in Schreckstarre, wölbt den grell schwarz-gelb gemusterten Bauch nach oben. Das Warnsignal soll Fressfeinde abschrecken, die ungenießbaren Hautsekrete der Unke näher kennenzulernen.
Kessler weist auf die herzförmigen Pupillen hin und erzählt von der Begeisterung der Kinder, wenn er ihnen dieses Tier zeigt: "Da will dann jeder von den 15 Knirpsen mal drüberstreicheln." Im vergangenen Jahr haben vier Gruppen aus der Umgebung Ausflüge in den Garten unternommen.
Diese recht spezielle Arche Noah hat sich auch für Experten verblüffend schnell entwickelt. Das verdankt sie einerseits der Lage direkt an Staatsforst und Naturschutzgebiet; gleich nebenan hat sich der Steinige Graben tief in den fast 50 Meter mächtigen Lehmboden gefressen. Das kleine Naturwunder profitiert aber auch von Kesslers Wissen, Erfahrungen und Engagement. Zwei Jahrzehnte lang ist er ehrenamtlich im Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland aktiv, dem BUND gehört er seit dem 15. Lebensjahr an. Erst vor Kurzem ist er den Grünen beigetreten: Den Ausschlag gab für ihn die Politik der bayerischen Staatsregierung, die entgegen vollmundiger Versprechungen Arten-, Umwelt- und Klimaschutz gegen die Wand fahre.
Bevor Kessler im Waldwinkel in Riederau gelandet ist, hatte er schon zwei Naturgärten in Schondorf und Landsberg konzipiert. Das neue Haus entstand in Zusammenarbeit mit dem Uttinger Architekten Wolf-Eckhard Lüps, die großen Fensterfronten sind überdacht: Eine umlaufende Pergola soll den Vogelschlag minimieren. Geothermie sorgt für Wärme, 58 Quadratmeter Dachfläche werden für Photovoltaik genutzt. Obwohl mit dem Strom Haus, Heizung und Auto versorgt werden, bleibt ein üppiger Überschuss, der ins Netz fließt.
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Für den Garten musste das gesamte Terrain modelliert und terrassiert werden, tonnenweise wurden Wasserbausteine verbaut. Auf dem Dach der in den Hang versenkten Garage ist ein Nutzgarten mit zwei Hochbeeten platziert - der Rest des Geländes wirkt wie ein unbeeinflusstes Naturidyll. Mit dem Solarstrom wird eine Pumpe betrieben, die aus dem Teich einen Bachlauf und kleinere Tümpel speist.
Rasen sucht man vergebens, aber es gibt eine Sandfläche, Totholzhaufen, Trockenmauern, Steingarten und Sonnenhügel. Auf je einer Obst-, Trocken- und Feuchtwiese blühen gerade Haferwurz und Wiesenbocksbart, Klappertopf und Natternkopf sowie Dutzende weiterer Wildblumenarten - eine entsprechende Vielzahl von Insekten- und Vogelarten ist hier auf Nahrungssuche.
Vom alten Abrisshaus, das im Winter kaum zu beheizen war, fand fast alles von den Ziegeln bis zum Balkon weitere Verwendung. Auch ein Teil der vormaligen botanischen Ausstattung erhielt im Naturgarten wieder Raum. Quitten- und Apfelbaum blühen an ihren neuen Standorten buchstäblich auf. Und selbst eine Thujengruppe, die an der Einfahrt zum alten Haus wurzelte, fand Asyl. Diese Koniferenhybriden sind ja eher als lebloser "Grüner Beton" verpönt als im Naturgarten daheim. Aber Kessler sah auf Fotos deren erstaunliches Alter - und so dürfen sie nun im Ensemble "bella figura" machen.
Er ist kein Ideologe, der standortsfremde Pflanzen ausgrenzt, sondern Pragmatiker und Ästhet. Kessler kauft immer wieder Stauden von Naturgärtnereien ein, um eine möglichst große Vielfalt zu bieten. Entzückende, amerikanische Wildpflanzen wie die Binsenlilie breiten sich aus, Gartenformen von Akelei und Iris haben sich zwischen die natürlichen Arten gemischt. Auch, wenn er keinen Rasen zu mähen hat, macht die eben nur scheinbare Wildnis viel Arbeit: Giersch und Löwenzahn, Nacktschnecken und Wühlmäuse versuchen, auch sein Grundstück zu erobern.
Eigentlich hätte der in Icking aufgewachsene, gebürtige Heidelberger Umweltwissenschaften studieren wollen, doch dieser Studiengang wurde erst Jahrzehnte später angeboten. So machte Kessler stattdessen als Grafik-Designer, Cartoonzeichner und Illustrator Karriere. Besonders erfolgreich war er mit geradezu hyperrealistischen Tableaus von Tier- und Pflanzenmotiven für Zeitschriften, Kinder- und Lehrbücher. Mit dem legendären Journalisten und Autor Horst Stern arbeitete er für das erste Umweltmagazin "Natur" zusammen. Und noch immer zeichnet Kessler professionell in seinem Landsberger Studio, wobei er auf digitale Unterstützung komplett verzichtet.
Nur ungern lässt er sich vor die Kamera bitten, Eitelkeit ist ihm völlig fremd. Mit Führungen durch den Naturgarten wollen Kessler und seine Frau nicht renommieren. Ihr Ziel ist es, einen naturverträglichen Umgang mit Pflanzen und Tieren zu vermitteln - vor allem aber, andere Gartenbesitzer zu inspirieren. Die müssten gar nicht ein Grundstück neu nivellieren, Wege, Teiche und Bachläufe anlegen. Um Lebensräume zu schaffen oder zu erhalten, reichen oft schon wenige Quadratmeter Fläche aus. "Wenn nur Einer in Zukunft etwa die Brennnessel nicht mehr als Unkraut sieht und als Lebensgrundlage für Falter zulässt, wäre schon etwas gewonnen", sagt Kessler.
Am Samstag, 3. Juni, finden um 13 und um 15 Uhr zwei Führungen am Haus Oberer Forst 33 statt. Die Teilnehmerzahl ist auf jeweils zwölf begrenzt, Anmeldung unter: mail@gruene-diessen.de .