Süddeutsche Zeitung

SZ-Tatortserie:Die Phantome der dritten RAF-Generation

Der Terror flammt wieder auf: Rüstungsmanager Ernst Zimmermann wird 1985 in seinem Haus in Gauting geradezu exekutiert. Von den Tätern fehlt bis heute jede Spur.

Von David Costanzo, Gauting

Der Terror macht auf wohlerzogen. Eine junge Frau, vielleicht 20 bis 25 Jahre alt, klingelt gegen 7.20 Uhr an der Haustür des Rüstungsmanagers Ernst Zimmermann in der Wessobrunner Straße in Gauting. Sie habe dem MTU-Chef ein Schreiben auszuhändigen, er müsse den Empfang persönlich quittieren. Die Frau mag an jenem trüben Freitagmorgen des 1. Februar 1985 mit ihren schmutzigen Schuhen gar nicht eintreten, es liegt ja noch Schnee draußen. So erinnert sich Zimmermanns Ehefrau Ingrid 15 Jahre später im Gespräch mit der SZ. Sie schöpft keinen Verdacht.

Was in den nächsten Minuten folgt, ist an Brutalität kaum zu überbieten: Als Zimmermann erscheint, steht plötzlich ein Mann mit Maschinenpistole neben der jungen Frau. Die beiden fesseln das Ehepaar und drängen Ernst Zimmermann nebenan ins Schlafzimmer, setzen ihn auf einen Stuhl. Seine Frau Ingrid hört noch, wie er die Täter anfleht, sie zu verschonen. Die zynische Antwort: "Frauen und Kindern tun wir nichts." Dann schießen sie dem 55-Jährigen mit einem Revolver in den Hinterkopf, Kaliber 38, eine Exekution. Zimmermann stirbt elf Stunden später im Klinikum Großhadern. Die Täter flüchten unerkannt, die Polizei kann bis heute, 34 Jahre nach dem Mord, nicht einmal Verdächtige benennen. Sie bleiben Phantome.

Die Rote Armee Fraktion (RAF) bekennt sich mit dem "Kommando Patrick O'Hara" zu dem Attentat - benannt nach einem irischen Terroristen, der 1981 nach einem Hungerstreik starb. Das erklärt ein Unbekannter in einem Anruf beim Werbeblättchen "Gautinger Anzeiger". Zimmermann ist das erste RAF-Opfer seit Jahren. Neun Tote sollen bis 1993 hinzukommen - darunter Siemens-Vorstand Karl Heinz Beckurts und sein Fahrer Eckhard Groppler, die in Straßlach nach einer Bombenexplosion sterben. Die Täter versuchen gar nicht erst, ihre Opfer zu entführen, um Häftlinge freizupressen, sondern schlagen grausamer denn je zu, töten per Sprengfalle und mit Schüssen aus großer Distanz. Der mörderische Terror flammt wieder auf in Deutschland.

In Gauting macht sich Entsetzen breit. Der damalige Bürgermeister Ekkehard Knobloch kennt das Ehepaar Zimmermann aus dem Tennisclub. "Bescheidene, ruhige Leute", erinnert sich der heute 79-Jährige. Anders als andere Konzernbosse jener Zeit seien sie nicht "durch die Gazetten" gegangen. Die Zimmermanns wandern gern und fahren Ski, den Urlaub verbringen sie in Spanien und Portugal.

Reichtum ist man gewohnt in dem Münchner Vorort mit damals 18 000 Einwohnern und schönen Villen. Dem Bungalow der Zimmermanns ist er nicht anzusehen, allenfalls der Limousine mit dem Kennzeichen nach dem Konzernnamen "M-TU 5300", die in der Einfahrt steht. MTU - die Motoren- und Turbinen-Union mit Sitz in München - macht damals die Hälfte ihres Umsatzes im Rüstungsgeschäft, baut Triebwerke für den Kampfjet Tornado und Motoren für Leopard-Panzer. Das rückt den Vorsitzenden der Geschäftsführung und gleichzeitigen Präsidenten des Bundesverbands der Deutschen Luftfahrt-, Raumfahrt- und Ausrüstungsindustrie ins Visier der Terroristen. Zur Trauerfeier im Kongresssaal des Deutschen Museums kommen 2000 Menschen - Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann und Ministerpräsident Franz Josef Strauß halten die Reden.

Ingrid Zimmermann kann sich nach der Tat von Fesseln und Klebeband vor dem Mund befreien und ruft eine Nachbarin an. Die Polizei richtet Straßenposten ein, überwacht Nahverkehr, Bahn und Flughäfen, verschärft die Grenzkontrollen, ein Hubschrauber kreist über der Ortschaft, keine Spur von den Attentätern. Die Ermittler verteilen Handzettel an die Bevölkerung, Hunderte Hinweise gehen in den kommenden Tagen ein, kein einziger führt die Soko Gauting weiter - nicht, als eine Belohnung von 50 000 Mark ausgesetzt wird, und auch nicht, als diese im Jahr 2000 auf eine Million Mark erhöht wird. Selbst über den Fluchtweg erhärten sich die Vermutungen erst, als nach fast drei Wochen das Fluchtauto in Kaufering, nördlich von Landsberg, entdeckt wird.

Die Täter könnten demnach zu Fuß die etwa 300 Meter in Richtung Waldpromenade geflüchtet sein, um von dort über die Römerstraße zur Lindauer Autobahn zu fahren. Von Kaufering aus könnten sie mit der Bahn verschwunden sein. Nicht einmal in der Wohnung findet die Spurensicherung verwertbare Fingerabdrücke, obwohl die Täter keine Handschuhe tragen. Sie haben sich die Hände offenbar mit Verbandsspray versiegelt.

Die Täter hätten lange auf der Lauer gelegen, glaubt Ingrid Zimmermann. "Die haben uns vorher ausspioniert, denn sie wussten in unserem Haus gut Bescheid", sagt sie im Jahr 2000 der SZ. Der frühere Bürgermeister Knobloch vermutet, dass sich die Täter in der damaligen Bauruine auf dem Nachbargrundstück versteckt hatten: "Vielleicht konnten sie deswegen so unentdeckt zuschlagen."

Unsichtbar und erbarmungslos - das sind die Kennzeichen dieser dritten Generation der RAF, die auf die Keimzelle aus der Baader-Meinhof-Gruppe um 1970 und die zweite Generation folgt. Die hat vor allem die Befreiung der ersten Generation aus dem Gefängnis zum Ziel und scheitert im Deutschen Herbst von 1977. Über die Mitglieder der dritten Generation, die den Schulterschluss mit anderen Untergrundorganisationen in Europa sucht, ist kaum etwas bekannt.

Auch die Mörder von Siemens-Manager Beckurts werden nach dem Sprengstoffanschlag am Morgen des 9. Juli 1986 in Straßlach nie gefasst. Die Polizei ist sich damals nur schnell sicher, dass der Bekennerbrief auf derselben Schreibmaschine verfasst wurde wie das Schreiben, das die Terroristen 17 Monate zuvor nach dem Mord an Zimmermann verschickten. Noch etwas verbindet beide Attentate: Die Polizei hat Monate zuvor eine konspirative Wohnung der RAF in Frankfurt ausgehoben und eine Sammlung von Zeitungsartikeln mit unterstrichenen Managernamen gefunden - darunter die von Zimmermann und Beckurts.

Die für Terrorismus zuständige Bundesanwaltschaft in Karlsruhe hat beide Fälle nicht zu den Akten gelegt. "Es wird weiterhin solchen Ermittlungsansätzen nachgegangen, die sich in tatsächlicher Hinsicht oder aus der Weiterentwicklung der Kriminaltechnik ergeben", sagt Sprecher Markus Schmitt. Neue DNA-Analysen etwa haben offenbar noch keine zielführenden Treffer ergeben.

Der frühere Bürgermeister Knobloch kann das nicht verstehen. "Es ist fast nicht zu glauben, dass es hier zu keinerlei Fortschritten kommt." Er hat den Kontakt zur Witwe über die Jahre gehalten, ihr Freundeskreis habe sie auf rührende Weise fast schon familiär aufgenommen. MTU lädt zu den Todestagen zum Gedenken an Zimmermanns Grab auf dem Gautinger Friedhof, bis die Witwe das nach zehn Jahren beendet. Es sei zu spüren gewesen, dass sie das Geschehen belaste, sagt Knobloch. Ingrid Zimmermann habe ihren Frieden finden wollen. Zuletzt sei sie regelrecht genervt gewesen von immer neuen Gegenüberstellungen mit Verdächtigen bei der Polizei. Und mit dem Tod der wichtigsten Zeugin schwindet die Hoffnung, die Mörder noch überführen zu können. Ingrid Zimmermann stirbt 2015 im Alter von 84 Jahren. Das Paar hatte keine Kinder.

Die Witwe ist zeitlebens nicht aus dem Haus in der Wessobrunner Straße ausgezogen. "Hier bin ich meinem Mann nah", sagte sie einst der SZ. "Ich versuche mein Leben zu meistern, und das wäre auch in seinem Sinne gewesen, nicht aufzugeben."

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Quelle:
SZ vom 24.08.2019
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