Mitten in der Region:Zu viel, zu wenig, genug

Warum selbst Quitten offenbaren können, wie schwierig es ist, das rechte Maß im Leben zu finden

Kolumne von Ingrid Hügenell

Zu viel Kuchen ist schlecht für die Figur, zu viel Joggen schlecht für die Gelenke, zu viel Mäßigung schlecht für die Laune. Einige der sieben Todsünden widmen sich dem Zuviel: Hochmut, Zorn, Wollust, Völlerei. Über ein Zuviel an Feld- und Gartenfrüchten ist bisher jedoch nur selten geklagt worden, obwohl man gerade heuer den Eindruck gewinnen konnte, auch das gäbe es. Zum Beispiel als Freunde und Kollegen die Annahme der Quitten verweigerten, die im Garten sehr reichlich gereift waren.

Also machte man sich selbst frohgemut ans Werk. Quittengelee und -marmelade schmecken wirklich gut und werden, im Gegensatz zu den unverarbeiteten Früchten, immer gerne als Geschenk angenommen. Beim Schneiden der harten, gelben Dinger stellt man fest, dass auch diese Tätigkeit auf die Gelenke geht. Aber egal. Schließlich ist der Dampfentsafter gefüllt, die letzte Quitte abgerieben, gewaschen, zerteilt, entkernt. Es ist der dritte Akt der Verarbeitung, Dutzende Gläser sind bereits im Keller verstaut.

Schon will man zufrieden aufatmen, als der linke Fuß an eine Tüte stößt. Darin: weitere 19 Quitten. Ja, es gibt so etwas wie zu viele Früchte. Sie sind hier, in der eigenen Küche. Kurz überlegt man, ob man sich hinsetzen und eine Runde weinen soll. Dann beschließt man, dass das Obst, das sich so heimtückisch versteckt hatte, nun ein paar Tage auf die Verarbeitung warten kann. Am nächsten Morgen liegen die Früchte immer noch auf der Arbeitsplatte. Bestimmt bildet man sich ein, dass sie einen vorwurfsvoll anschauen. Dann die Erleuchtung, bevor man ins Büro aufbricht. Man hat gar nicht zu viele Quitten, sondern schlicht zu wenig Zeit, weil man zu viel arbeiten muss. Den adeligen Griechen war die Arbeit verpönt. Sie schätzten die Muße, die ihnen die Kontemplation ermöglichte. Sie hätten allerdings in ihrer vielen freien Zeit auch kein Obst eingekocht. Das hätten sie Frauen und Sklaven überlassen. Zu viel Müßiggang gilt zudem ebenfalls als Todsünde - es ist die Faulheit. Wie bei allem gilt auch hier: Genug muss es sein. Genug Zeit zum Einkochen, genug Arbeit für genug Geld, genug Kuchen zum Genießen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: