Süddeutsche Zeitung

Mitten in der Region:Haltbarer Jahrgang

Ja ist denn schon wieder Klassentreffen?

Glosse von Renate Winkler-Schlang

Im vergangenen Sommer haben wir an einem verregneten Urlaubstag in Rostock eine großartige Fotoausstellung gesehen mit Bildern von Ute und Werner Mahler, Gründer der bekannten Fotoagentur Ostkreuz. Werner Mahler zeigte da unter anderem das Fotoprojekt "Die Abiturienten". Einige aus dieser Abschlussklasse hat Mahler in regelmäßigen Abständen wieder besucht und erneut aufgenommen. Es hatte einen eigentümlichen Reiz, diesen Menschen in der Ausstellung quasi beim Altern zuzusehen, während gleichzeitig das Interieur ihrer Wohnzimmer immer moderner wurde.

Daran haben wir uns am vergangenen Wochenende erinnert. Wir hatten nämlich wieder Klassentreffen. Andere haben das auch, alle ein, zwei Jahrzehnte. Wir aber, die 13 b von 1976 vom Gymnasium Neu-Ulm, wir haben es jedes Jahr. Und nicht nur einen Abend lang, sondern gleich ein ganzes Wochenende. In einem früheren Pfarrhaus im Unterallgäu. Ein Haus mit Stockbetten und Tischtennisraum, in der funktionalen Küche stapelbares Geschirr. Das glaubt einem kein Mensch. Und wenn, dann haben die meisten nur einen mitleidigen Blick übrig: Warum sollte man seine Zeit freiwillig ausgerechnet mit den Leuten verbringen, die einen in der Schule nicht haben abschreiben lassen?

Nun, wir hatten da offenbar Glück. Wir hatten schlaue, solidarische Mitschülerinnen, die uns ihre Hefte ohne Murren zum Abkupfern gaben. Als "Fahrschüler" hatten wir im Schienenbus schon Gelegenheit, unsere Mathe-Hausaufgaben zu vervollständigen. Wir hatten außerdem einen tendenziell sadistischen Deutsch-, Geschichte- und Sozialkundelehrer, der uns wie kein anderer lehrte, zusammenzuhalten - gegen ihn. Und es gab Ede, zwei Jahre älter als die meisten, der in der elften zu uns kam und uns ansteckte mit seiner Lust aufs Partymachen. So kam eins zum andern, aus der Klasse entstanden einige Paare, drei davon bis heute verheiratet. Alles Grund genug, sich zuverlässig einmal im Jahr zu treffen. Wen, außer den eigenen Geschwistern, kennt man so lang und so gut? Da muss man nicht viel erklären, da kann man einfach nahtlos weitermachen, weitererzählen.

Wieder daheim, sind wir noch voll der Eindrücke, so froh, dass alles trotz der notwendigen Corona- Hygieneregeln gut geklappt hat. Bloß im Speicher der Kamera, das fällt uns erst jetzt auf, finden sich keine neuen Bilder. Vor lauter Ratschen und Kochen haben wir das Fotografieren völlig vergessen. Das macht aber nichts. Es gibt ja so viele Schnappschüsse aus den Vorjahren. Und anders als die Protagonisten von Mahlers "Abiturienten"-Langzeitprojekt haben wir uns schließlich auch kein bisschen verändert...

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Quelle:
SZ vom 30.07.2021
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