Mitten in der Region:Geliebte falsche Schlange

Warum wechselt jemand von der schnellen zur langsamen Schlange im Supermarkt? Womöglich wegen der Kassiererin

Kolumne von MICHAEL MOROSOW

In welcher Schlange soll ich mich anstellen? Diese Frage stellen sich seit Generationen Heerscharen von Kunden - und wählen am Schluss doch die falsche, die langsamere. Laien erkennt man daran, dass sie ihre Entscheidung allein von der schieren Länge einer Schlange abhängig machen. Fortgeschrittene dagegen vergleichen die Füllmengen der Einkaufswägen unter Berücksichtigung von Waren wie Obst und Gemüse, die erst noch langwierig gewogen werden. Profis beziehen in ihre Abwägung zudem die Qualität der Kassenkräfte mit ein - den Kopf der Schlange gewissermaßen.

Zieht etwa links ein Lehrling die Waren über den Scanner und schaut bei jedem zweiten Artikel hilfesuchend nach rechts rüber zum Kollegen oder zur Kollegin, dann sollte man sich besser bei seinem Kollegen oder seiner Kollegin anstellen. Aber selbst wenn dort die Waren im Sekundentakt übers Band laufen, muss dies keine Garantie dafür sein, dass man hier schneller durchkommt als beim Langweiler nebenan. Dass ausgerechnet immer dann, wenn man selbst an der Reihe ist, die Kassenrolle gewechselt werden muss, steht für jeden außer Zweifel.

Ein Einkaufsmarkt in der Region, zwei Kassen, zwei Schlangen, zwei Kassiererinnen. Eine junge Mutter und ihr vielleicht fünf Jahre alter Sohn haben sich links eingereiht, wo weniger Kunden anstehen und es sichtbar schneller vorangeht. Dennoch schaut der kleine Chefeinkäufer mit Kennerblick nach rechts und weist seine Mutter an, die Schlange zu wechseln, weil nebenan alles flotter gehe, wie er frech behauptet. Wie er zu dieser Einschätzung kommt, verrät er leider nicht. Die beiden wechseln jedenfalls nach rechts. Jetzt mischt sich eine Kundin aus der linken Schlange ein und sagt zur Mutter, ihrer Meinung nach gehe es links wirklich viel schneller, und wenn sie wolle, dürfe sie wieder vor ihr einscheren.

"Nein, danke" erwidert die Frau und schickt eine Erklärung hinterher: "Wissen Sie, hier geht es nicht um die Geschwindigkeit, hier geht es um die Kassiererin", lässt sie die freundliche Kundin wissen. Der kleine Filou also steht auf die Kassiererin an der Spitze der rechten, langsameren Schlange. Es geht kein bisschen um Zeit, es geht um Liebe. Als der Einkauf seiner Mutter auf dem Band liegt, kann es ihm gar nicht lange genug dauern, bis die Kasse die Rechnung ausspuckt. Seine Rechnung ist aufgegangen.

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