Süddeutsche Zeitung

NS-Vergangenheit:Der Weihbischof und das Massaker

Pöcking befasst sich mit der Rolle von Matthias Defregger bei einer grausamen Vergeltungsaktion der deutschen Wehrmacht in Italien.

Von Sylvia Böhm-Haimerl

Es war am 7. Juni 1944, als die deutsche Wehrmacht Frauen und Kinder aus dem kleinen italienischen Dorf Filetto vertrieb und alle 17 männlichen Bewohner erschoss. Die Leichen wurden in einer Höhle verbrannt, das Dorf wurde angezündet. Es war eine Vergeltungsaktion, weil Partisanen zuvor zwei Soldaten getötet hatten. Der verantwortliche Offizier, der den Befehl ausführen ließ, war Matthias Defregger, der spätere Weihbischof von München-Freising. Er hatte bis zu seinem Tod 1995 in Pöcking gewohnt und dort regelmäßig Messen zelebriert. 1997 wurde der Weg zum örtlichen Friedhof nach ihm benannt. Nun steht zur Debatte, ob der Weg umbenannt werden soll.

Viele Pöckinger haben den allseits beliebten Weihbischof bis heute in guter Erinnerung. Auch Bürgermeister Rainer Schnitzler hat an ihn nur positive Kindheitserinnerungen. Zwar sei schon damals bekannt gewesen, dass er an dem Massaker in Filetto beteiligt war. Doch nachdem die Gerichte in Deutschland (1968/69) und in Italien (1972) zu dem Urteil gekommen seien, er habe lediglich einen Befehl befolgt, habe man die Sache in Pöcking für erledigt betrachtet, sagte Schnitzler bei einer Veranstaltung am Donnerstag, die sich der Frage widmete: "Wer war Weihbischof Defregger?".

Pöcking möchte die Geschichte aufarbeiten und die Verantwortung für die Tat übernehmen, weil Defregger selbst es nie getan hat. Zum Jahrestag ist heuer eine 13-köpfige Delegation aus Pöcking in das 1000 Kilometer entfernte Filetto gefahren. Es sollte eine Geste der Versöhnung sein, wie der Bürgermeister betonte. In Filetto erinnern ein Mahnmal und Straßennamen an das Massaker. Vielen Bewohnern ist es heute noch präsent, weil so gut wie jeder Einwohner damals Angehörige verloren hatte.

Er habe "selten in so kurzer Zeit so viele Eindrücke gesammelt von Gastfreundschaft und Herzlichkeit", stellte Schnitzler nach der dreitägigen Reise fest. Den Bewohnern des Dorfes in den Abruzzen erging es offenbar ähnlich. Denn sie sagten zum Abschied: "Wir haben Deutsche erwartet, aber jetzt seid ihr gekommen, und wir sind froh." Bei der Versöhnungsgeste allein soll es nicht bleiben. Pöcking will die Einwohner Filettos zum Gegenbesuch einladen. Zudem will der Gemeinderat darüber entscheiden, wie man mit dem Defregger-Weg umgeht. Schnitzler ist skeptisch, ob der Straßenname noch eine Zukunft hat. Dennoch werde es eine "extrem schwierige" Abwägung werden, da es in der Bevölkerung unterschiedliche Sichtweisen gebe.

Dies wurde auch in der Diskussion am Donnerstag deutlich. "Der Weihbischof war ein Mensch, den hat man mögen müssen. Ich kann ihn nicht verurteilen", sagte Rainer Ottenlocher, der 23 Jahre lang Defreggers Sekretär war. Er habe zwar ein gewaltiges Temperament gehabt und seine "Ecken und Kanten", aber er sei auch ein freundlicher, großzügiger Mann gewesen.

Martin Erhard glaubt, dass Defregger "eine gewaltige Reue gehabt hat", auch wenn er nie darüber gesprochen habe. Die Pöckinger seien es ihm schuldig, ihn zu verteidigen, denn das Verfahren gegen ihn sei drei Mal eingestellt worden, betonte Hans Engesser. Es sei ihm unverständlich, "warum wir uns als böse hinstellen" auch noch 75 Jahre nach dem Krieg. Schnitzler widersprach: "Es ist wichtig, dass wir offen und transparent damit umgehen." Er sei in Filetto von einem einheimischen Journalisten gelobt worden, dass die Pöckinger Vorbild für Italien seien, da das Land den Faschismus nie aufgearbeitet habe.

"Wir haben nicht gesagt, dass wir schuld sind, aber wir tragen die Verantwortung", erklärte die Historikerin Professor Marita Krauss. Die Professorin an der Universität Augsburg hat die Pöckinger Nazivergangenheit in dem Buch "Ein Dorf im Nationalsozialismus" aufgearbeitet und war damit beauftragt worden, Defreggers Rolle bei dem Massaker zu erforschen. Sie nennt den Weihbischof "den doppelten Defregger", weil er zwei Seiten gehabt habe: die des aufrechten Kirchenmanns und die des Soldaten, der den Schießbefehl ausführen ließ.

Nach ihren Recherchen galten Geiselerschießungen im Kriegsrecht als letztes Mittel, um Gehorsam zu erzwingen. Doch nicht die Partisanen, die damals die zwei deutschen Soldaten getötet hatten, waren erschossen worden, sondern unbeteiligte Zivilisten. Krauss ist überzeugt davon, Defregger hätte den Befehl auch ignorieren können. Die Alliierten standen schon in Rom, das Dorf Filetto ist nur 85 Kilometer entfernt. Zudem sei kein Fall bekannt, bei dem Offiziere, die einen Befehl nicht umgesetzt hatten, an die Wand gestellt worden waren. Dennoch habe Defregger den Befehl weder juristisch noch moralisch in Frage gestellt. "Selbstständig handeln konnte und wollte er nicht. Er distanzierte sich nie vom Krieg. Von einem Kirchenmann hätte man tätige Reue erwarten können", sagte die Historikerin. Wenngleich der Michaelisbund damals Geld gesammelt und eine Wallfahrt nach Filetto organisiert hatte, bei der die Angehörigen mit 10 000 Mark für jeden Getöteten entschädigt wurden, sei Defregger selbst nie hingefahren oder habe eine Messe für die Getöteten gelesen. Es habe nie eine Geste des Bedauerns gegeben.

Der katholische Pfarrer der Pfarreiengemeinschaft Pöcking, Leander Mikschl, hat in 28 Jahren als Seelsorger die Erfahrung gemacht, dass traumatisierte Menschen "den Deckel draufhalten", um ihr Trauma nicht erneut erleben zu müssen. Nur so könnten sie weiterleben. Er appellierte daher an die Pöckinger, nicht nur den Offizier Defregger zu beurteilen. "Wenn wir nur eine Seite beleuchten, sind wir auf der falschen Spur. Sehen Sie im Weihbischof mehrere Seiten, die er auch hatte", betonte Mikschl unter dem Beifall der etwa 70 Besucher.

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